Die Macht des Bloßstellens
Zwischen Shitstorms und kluger Kommunikationskampagne: Das Beschämen von Personen und Institutionen wird zunehmend als politisches Instrument eingesetzt
Pranger, Narrenkappen, Teer und Federn mögen der Vergangenheit angehören, doch auch im 21. Jahrhundert gibt es Wege, Menschen öffentlich zu beschämen und der Schande preiszugeben. Das zeigen etwa die endlosen Fälle von Personen, die von einem wütenden Online-Mob wegen ihrer Äußerungen im Internet verfolgt werden. So etwas macht Menschen das Leben für eine Zeit zur Hölle und kann langfristig ihrer Online-Reputation schaden. Das Unbehagen, dass diese Art der Diffamierung, die man auch als „Shitstorm“ kennt, den Opfern bereitet, sollten wir alle empfinden.
Das An-den-Pranger-Stellen sollte aber nicht nur unter diesem Aspekt betrachtet werden. Im Kampf für große gesellschaftliche Themen wie das Artensterben oder den Klimawandel kann es politisch sehr nützlich sein. Der gemeinnützige Verein „Organizing for Action“, der von Barack Obama unterstützt wird, hat eine Internetseite eingerichtet, mit der Nutzer via Twitter die Leugner des Klimawandels unter den US-Kongressmitgliedern öffentlich machen können. Die Dokumentation „Blackfish“ („Der Killerwal“) über die grausame Haltung von Orcas in den Freizeitparks von SeaWorld hat zusammen mit der anschließenden Protestbewegung bewirkt, dass die SeaWorld-Aktie um mehr als sechzig Prozent abstürzte und Maßnahmen ergriffen wurden, die Haltung der Schwertwale in Gefangenschaft zu beenden.
Dieser öffentliche Pranger kann nicht einfach mit schlechter Publicity gleichgesetzt werden. Die Schande hat zwei Seiten: Sie ist ein Gefühl und ein Mittel zum Zweck. Oft hat sie eine starke moralische Dimension. Das unterscheidet sie vom Gefühl der Peinlichkeit, das meist auf einen weniger schweren Fehltritt ohne großes moralisches Gewicht folgt, zum Beispiel, wenn man einen Fetzen Toilettenpapier am Schuh hängen hat. Das Gefühl der Scham ist eine schmerzhafte Erfahrung. Laut Psychologen kann man sie sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten machen. Viele Wissenschaftler würden Charles Darwin zustimmen, der sagt, dass wir uns schämen, wenn „wir uns ausmalen, was andere über uns denken“. Diese Definition bindet das Gefühl der Scham an die Reputation. Wenn es einen Ruf zu verlieren gibt, wird Scham zu einem nicht zu unterschätzenden Druckmittel.
Als Werkzeug lässt sich Scham einsetzen, indem man einen Missetäter der öffentlichen Schmach und Schande preisgibt, was dazu beiträgt, sein Verhalten und Handeln anhaltend zu verändern. Das Kompromittieren darf aber nicht mit Transparenz verwechselt werden, dem Verfügbar- und Zugänglichmachen von personenbezogenen Informationen für jedermann. Verfechter der Transparenz argumentieren, dass man Informationen über Personen unter der Prämisse sammle und kommuniziere, dass Helligkeit der beste Schutz vor dunklen Machenschaften sei. Werden hier ein paar besonders infame Akteure entdeckt, folgt oft die Bloßstellung, dann konzentriert man sich jedoch darauf, für die Missetäter eine negative Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es gibt Hinweise darauf, dass auch Gruppen ihr Handeln ändern, wenn sie kompromittiert werden. Auch wenn eine Gruppe keine Scham an sich empfinden kann. Manche scheinen jedoch sensibler als andere zu sein. Das trifft zum Beispiel auf die Agentur Edelman zu, die größte unabhängige PR-Agentur der Welt.
Sie hat sich damit hervorgetan, Leugner des Klimawandels zu vertreten. Im August 2014 erschien im Guardian ein Artikel, der darüber berichtete, dass viele PR-Agenturen die Zusammenarbeit mit diesen Skeptikern ablehnten, bis auf Edelman. Am nächsten Tag titelte das Online-Magazin Motherboard der Mediengruppe Vice Media: „Wie die größte PR-Agentur der Welt dabei hilft, den Klimawandel zu leugnen.“ Die Agentur reagierte mit einer Online-Pressemeldung, in der sie erklärte, „Kunden, die den Klimawandel leugnen wollen“, nicht zu vertreten. Im Februar 2015 stieg die Agentur aus ihrem Vertrag mit der American Oil Lobby aus. Bis Juli 2015 verließen zwei Geschäftsführer und mindestens zwei Kunden das Unternehmen und gaben an, dass das zumindest teilweise mit der Weigerung des Unternehmens zu tun habe, zum Klimawandel eindeutig Stellung zu beziehen. Noch im gleichen Monat konnte man laut Guardian in einer Hausmitteilung lesen: „Das Unternehmen hat entschieden, dass Klimaleugner und Kohleproduzenten die Reputation und potentielle Geschäfte gefährden.“ Und im September dieses Jahres verkündete die Agentur Edelman, dass sie Klimaleugner und Kohleproduzenten nicht weiter vertreten werde.
PR-Unternehmen sind gut gewählte Ziele, denn sie haben nicht nur einen Ruf zu verlieren, sondern auch die Wahl, wo sie sich engagieren. Das Gleiche gilt für Banken, die auch ein Image zu verteidigen haben und entscheiden können, welche Projekte sie finanzieren. Die niederländische Nichtregierungsorganisation BankTrack zerrt Banken mit ihren international geächteten sogenannten Dodgy Deals“ins mediale Licht (oder droht damit) und bringt sie in die sozialen Medien. Viele dieser, zu Deutsch, „fragwürdigen Geschäfte“ tragen zum Klimawandel oder zu anderen Umweltzerstörungen bei.
Kürzlich veröffentlichte BankTrack eine Liste von Geldinstituten, die von 2005 bis 2014 weltweit die Kohleindustrie finanziert haben. Ganz oben steht JPMorgan Chase, die Deutsche Bank wird als zehntgrößter globaler Geldgeber für Kohleprojekte geführt. Im Mai erklärten die Bank of America und Crédit Agricole als erste Großbanken, dass sie ihre Finanzierung des Kohleabbaus stoppen wollten. Die Deutsche Bank hat sich in Sachen Kohle noch nicht bewegt, aber auf anderen Gebieten auf Bloßstellungen reagiert. Nach monatelangen Protesten verkaufte sie 2014 ihre Anteile an der indonesischen Firma Bumitama, einem Palmöllieferanten, der enge Verbindungen zu einer illegalen Plantage auf Borneo hat.Unternehmen wie die Agentur Edelman, die Bank of America und die Deutsche Bank können als Institutionen vielleicht keine Scham empfinden doch, wie diese Beispiele zeigen, können sie als Reaktion auf öffentliche Schmähungen ihr Handeln ändern. Die Tatsache, dass sich Gruppen nicht beschämen lassen, ist einer der Gründe, weshalb das Bloßstellen von Gruppen weniger besorgniserregend ist als das Bloßstellen von Personen, die darauf gefühlsmäßig reagieren.
Da jeder von uns jemanden diskreditieren kann und eine Bloßstellung sich in Rekordzeit im Internet verbreitet, sollten wir ein paar Vorsichtsmaßnahmen beachten, wenn wir dieses heikle Hilfsmittel anwenden. Digitale Technologien haben die Kosten für üble Nachrede minimiert und gleichzeitig ihre Reichweite, Geschwindigkeit und Auffindbarkeit erhöht.
Eine der Hauptgefahren des Bloßstellens, besonders wenn es durch eine anonyme, mit digitalen Technologien ausgerüstete Menge erfolgt, ist, dass dabei oft als Ziel eine Bestrafung und eine unverhältnismäßige Ahndung im Vordergrund steht. Ein Beispiel dafür ist ein US-amerikanisches Blog, das E-Mails und Kommentare von Rassisten enthüllt und mit der öffentlichen Bloßstellung bezweckt, dass die Betroffenen gefeuert werden. Eine Online-Meute ist nicht sehr gut darin, eine dem Vergehen angemessene Strafe zu finden, und auch die Unschuldsvermutung wird gerne umgedreht: Bis zum Beweis des Gegenteils gilt ein vorgeblicher Missetäter für schuldig. Die Menge verliert oft den Überblick und setzt all ihren Eifer in die Verfolgung einzelner Fälle.
Ein Beispiel aus jüngerer Zeit zeigt, wie sich die Aufmerksamkeit übermäßig auf ein Individuum konzentrieren kann, in diesem Fall auf einen Löwenjäger, ohne das größere Problem dahinter umfassend zu berücksichtigen. Nachdem der US-amerikanische Trophäenjäger Walter Palmer einen Löwen namens Cecil in Simbabwe erschossen hatte, wollte die Menge ihn sehr schnell online und offline bloßstellen. In den ersten 24 Stunden, nachdem Palmer die Jagd zugegeben hatte, wurden 670.000 Tweets gepostet, die Hashtags #WalterPalmer und #CeciltheLion hunderttausendfach benutzt.
Das Model Cara Delevingne tweetete: „Da versucht sich ein Mensch herauszureden, #WalterPalmer!“ (fast 14.000 Mal wurde dieser Tweet geliked und fast 9.000 Mal darauf geantwortet). Ein weit aufhetzenderer Tweet kam von der Tierrechteorganisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) und wurde mehr als vierhundert Mal geliked. Er rief dazu auf, Palmer „auszuliefern, anzuklagen und vorzugsweise zu hängen“. Die Bewertungsplattform Yelp löschte Tausende wütender Kommentare in Bezug auf Palmers Zahnarztpraxis.
Dass Palmer so vernichtend öffentlich geschmäht wurde, lässt sich nur mit der durch digitale Technologien und soziale Medien vernetzten Welt erklären. Sein Fall verdeutlicht eines der größten Probleme des öffentlichen Bloßstellens: Die wütenden Schmähungen richten sich oft stärker gegen den Verursacher als gegen das Vergehen. Palmer tauchte nach diesem Gegenschlag unter, erschien jedoch im September wieder in seiner Zahnarztpraxis. Im Oktober wurde entschieden, dass weder in den Vereinigten Staaten noch in Simbabwe Anklage gegen ihn erhoben wird. Wahrscheinlich wäre es hilfreicher gewesen, die Aufmerksamkeit statt auf Palmer auf ein System zu lenken, dass Trophäenjagden in Nationalparks möglich macht.
Die Tatsache, dass Palmer nach weniger als zwei Monaten seine Arbeit wieder aufnahm, offenbart ein anderes Problem des Bloßstellens: Es ist ein unterstützungsbedürftiges Hilfsmittel, das am Leben gehalten werden muss, sonst normalisieren sich die Dinge allzu rasch wieder. Öffentlicher Protest brachte beispielsweise Ebay dazu, seine Unternehmenspolitik zu ändern und den Elfenbeinhandel auf seinen Seiten zu unterbinden, doch die Verkäufer stellten ihre Produkte einfach bei anderen Online-Händlern ein. Eine Verfolgung auch dieser Händler hätte stattfinden müssen, solange das Verbot des Handelns mit Elfenbein nicht offiziell ist und durchgesetzt wird. Das spricht für eine der größten Herausforderungen der Bloßstellung: Sie braucht unsere ständige Aufmerksamkeit.
Die Beteiligung einer Zielgruppe ist notwendig, damit die öffentliche Bloßstellung wirken kann, und jeder Einzelne wählt die Themen aus, die ihn ansprechen. Erinnern wir uns daran, wie Bill Gates und Warren Buffet superreiche Deutsche einluden, sich den „Giving- Pledge“-Unterstützern anzuschließen, einer ehrenvollen Reihe von Menschen, die sich verpflichteten, die Hälfte ihres Vermögens für wohltätige Zwecke zu spenden. Wer dieser Erklärung nicht beitrat, wie in den USA zum Beispiel Oprah Winfrey, erntete in den Medien und beim Publikum Schmach und Schande. Viele Deutsche lehnten das Angebot schlichtweg ab. Sie drehten die Verunglimpfung um, spiegelten sie auf die Gründer der Kampagne zurück, indem sie die Milliardäre beschuldigten, ihre Spenden in den USA als Steuerabschreibungen zu nutzen. Da es ihnen überlassen war, welchen Wohltätigkeitsorganisationen sie ihr Geld zukommen lassen wollten, so der Vorwurf, sei ihr Einfluss darauf, wo das Geld hinfließe, viel stärker als der des Staates.
Man muss sich angesichts der großen Zahl von Themen, zu denen wir dank der Demokratisierung der Medien und der öffentlichen Meinung durch das Internet Zugang haben, mehr als jemals zuvor fragen, bei welchen Themen man wirklich Stellung beziehen möchte. Niemand will in einer Welt voller Bloßstellungen und Strafaktionen leben.
Es ist meistens sinnvoller, Gruppen anstatt Individuen bloßzustellen, und es ist ratsam, dieses Mittel als letzte Möglichkeit zu betrachten. Die öffentliche Bloßstellung sollte nur dann erwogen werden, wenn es keine offiziellen Möglichkeiten der Verfolgung gibt, das schließt auch formale Prozesse ein, wie das Recht auf ein schnelles und faires in eigener Gruppenverantwortung durchgeführtes Verfahren. Dabei sollte man jedoch bedenken, dass die Gesellschaft Unternehmen oder Regierungen nicht im gleichen Maße vor Gericht bringen und verurteilen kann, wie dies bei Individuen geschieht. Die Rufschädigung ist manchmal die einzig mögliche Sanktionsmaßnahme für Bürger, die gewissenloses Handeln bekämpfen wollen. Öffentliche Bloßstellungen können dazu beitragen, neue Standards für das Handeln zu setzen, bevor Gesetze dazu zwingen.
Ihre Ziele sollten allerdings mit Bedacht gewählt werden. Aufgrund unserer Tendenz zur Empathie sind wir versucht, unsere Schmähungen auf ein Individuum oder einen bestimmten Verstoß zu konzentrieren, wenn es in Wirklichkeit um ein viel größeres Thema geht, das an den Pranger gehört. Das öffentliche Bloßstellen von Volkswagen und die Entlassung des Vorstandsvorsitzenden wird nicht zu langfristigen Veränderungen führen. Sie wird auch nicht das dahinterliegende System angreifen, in dem Großbritannien, Frankreich und Deutschland ihren Einfluss in der Europäischen Kommission nutzten, um sich Schlupflöcher bei Abgastests offenzuhalten. Dies hat zu einem weit größeren Ausstoß von Kohlendioxyd geführt als behauptet.
Wir sollten der Versuchung widerstehen, durch öffentliches Bloßstellen Druck auszuüben, wenn dadurch der größere Zusammenhang in den Hintergrund gerät. Doch zielgerichtet, mit Bedacht und zur rechten Zeit eingesetzt, können Bloßstellung und Beschämung große gesellschaftliche Veränderungen einleiten. In einigen Fällen bleibt der öffentliche Pranger das einzige Mittel der Bürger, um die großen Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Es gilt jedoch immer abzuwägen, wie weit man gehen sollte, Einzelpersonen zu beschämen. Denn solche Shitstorms können, wie eingangs gezeigt, problematische Folgen haben. Man muss einen kühlen Kopf bewahren, Entscheidungen sorgfältig abwägen, anstatt rein emotional zu reagieren und dem dringenden Wunsch, Missetaten kundzutun, nachzugeben.
Aus dem Englischen von Karola Klatt