Die Hungrigen und die Satten

Keine Naturkatastrophe, sondern menschengemacht: Der argentinische Journalist Martín Caparrós ruft zum Kampf gegen den weltweiten Hunger auf

An den Folgen von Unterernährung sterben Jahr für Jahr weltweit circa drei Millionen Kinder. Bei den Erwachsenen sind es sechs Millionen. Diese erschreckenden Zahlen sind seit langem  bekannt. Auch haben die Experten deutlich machen können, dass der globale Hunger ein durchaus lösbares Problem ist. Man müsste es in einer von schneller, oft zerstörerischer kapitalistischer Globalisierung geprägten Welt nur ganz weit oben auf die politische Agenda all jener Akteure und Organisationen setzen, die sich angesichts immer dichterer weltweiter Vernetzung für eine neue Art von Weltinnenpolitik verantwortlich sehen. Das Skandalon des vielfältigen Hungers und des durch ihn bewirkten Sterbens lässt jedoch erkennen, dass dies nicht der Fall ist.

Viele Menschen in den reichen Überflussgesellschaften wissen um dieses Sterben. Aber zugleich ignorieren sie es und unternehmen nur wenige Anstrengungen, diese traurigen Verhältnisse zu verändern. Der argentinische Journalist und Schriftsteller Martín Caparrós deutet dies als eine Schande für all jene, die eigentlich die Macht und Kraft hätten oder erlangen könnten, das existentielle Leiden der Hungernden durch bessere Politik zu beenden. Zurecht spricht er von Massenvernichtung und Massenmord durch Unterlassen und schildert in seinem 842-Seiten-Wälzer ganz drastisch die immer noch wachsende globale soziale Ungleichheit. Aber Caparrós macht auch deutlich, dass der Hunger als globales Phänomen zugleich in den von ihm geprägten Gesellschaften oder Ländern eine eigene Gestalt annimmt.

Das in sechs große Kapitel gegliederte Buch erinnert an eine Collage aus ganz unterschiedlichen Textsorten. Analytischen Sequenzen folgen autobiographische Reflexionen, und in sehr kundige Reiseberichte aus Ländern wie Indien, Bangladesch, Niger und Madagaskar sind immer wieder Erinnerungen an Gespräche mit all jenen eingestreut, die Tag für Tag  unter Hunger leiden.

In keinem anderen Land der Welt hungern mehr Menschen als in Indien. Caparrós führt den Leser nicht nur nach Mumbai, Delhi und Kalkutta, sondern auch ins ländliche Indien mit seinen dramatischen sozialen Gegensätzen, die durch das überkommene Kastensystem und neue religiöse Machtkämpfe fortwährend verstärkt werden. Wer in Kalkutta einmal jene Kloake befahren hat, die Ganges heißt und ein heiliger Fluss sein soll, in dem die Menschen inmitten von Plastikmüll, Dreck und stinkenden Tierkadavern baden und sich waschen, kann nur den harten realistischen Blick loben, mit dem Caparrós das traurige Elend der auf den Straßen der Stadt nach irgendwelchen Lebensmitteln Suchenden, für ihr Überleben Bettelnden schildert.

Neben dem tödlichen Hunger als einer punktuellen, erbarmungslosen Katastrophe, die sich infolge von Kriegen oder Naturkatastrophen vor allem in Afrika immer wieder ereignet, sucht der Autor auch die alltäglichen Hungersnöte jener 800 bis 900 Millionen Menschen zu erfassen, die in eine aussichtslose Welt des Hungers hineingeboren wurden. Dabei gewinnt er die Erkenntnis, dass die extr-emste, grausamste Art von Armut jene ist, die einem die Möglichkeit nimmt, sich ein anderes Leben auch nur vorzustellen. Immer wieder kreist Caparrós um die Frage, wie wir Satten mehr oder minder ruhig weiterleben können, obwohl wir um das unsägliche Leiden der vielen anderen wissen.

Doch so stark Caparrós in der dichten Beschreibung des Lebens der Hungernden in Argentinien, den USA, Madagaskar und so fort ist, so wenig überzeugend sind die von ihm genannten politischen Konzepte gegen einen globalen Agrarkapitalismus, der Ungleichheit prolongiert und verschärft. Anders als die Weltbank betont er, dass mehr Entwicklung oder mehr Technologie in den Ländern der Armen die von der großen „kapitalistischen Maschinerie“ erzeugten Probleme nur verschärfe. Er polemisiert gegen die abstoßende, hässliche „Vulgarität von Menschen, die viel besitzen und schamlos wegwerfen, was andere händeringend benötigen“, und fordert, „unsere Welt so zu gestalten, dass sie nicht länger derart schrecklich aussieht“.

Auch fordert Caparrós die Einführung der TOBIN-Steuer auf alle Devisenspekulationen oder eine einmalige Steuer beim Kauf eines PCs oder eines Autos. Zugleich aber sieht er, dass es keinen politischen Akteur gibt, der eine solche Steuer erheben könnte, und appelliert deshalb an all jene, die den Glauben noch nicht preisgegeben haben, die Welt verändern zu können: Sie sollen Partei für die Wütenden und Empörten ergreifen. Und sie sollen „das System verändern“ und für ein „neues Paradigma“ ökonomischen Handelns eintreten. Doch worin dieses Neue liegt, vermag Caparrós nicht zu sagen. All seine vagen Forderungen trägt er nur im Modus von Appell und Anklage vor.
Sein Buch ist ein sehr wichtiger zorniger Mahnruf, endlich den Kampf gegen den Hunger politisch wieder ernster zu nehmen, als es derzeit der Fall ist. Aber es endet in der Ratlosigkeit, eine globale Umverteilung zu fordern, ohne sagen zu können, wer deren politisches Subjekt sein könnte.

Der Hunger. „Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ Von Martín Caparrós. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2015.