Was uns in den Knochen steckt

Wie der Mensch lernte, das Feuer zu beherrschen und Höhlen zu bemalen. Alexander Kluge im Gespräch mit Hermann Parzinger über dessen Buch "Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift"

Alexander Kluge: Herr Parzinger, der Mensch ist von den Göttern zunächst ungerecht bedacht worden. Er kommt nackt zur Welt, hat kein Gebiss wie ein Raubtier. Und doch ist der Homo sapiens mit dieser geringen Begabung von 18.000 Menschen irgendwo in Afrika zu einer Gemeinschaft von sieben Milliarden geworden. Sie fassen in Ihrem Buch fünf Millionen Jahre Menschheitsgeschichte zusammen.

Hermann Parzinger: Ich wollte gar nicht unbedingt eine Geschichte der Menschheit schreiben. Mich hat interessiert, wo ich in der Archäologie den Menschen als agierendes Wesen aufspüren kann. Er hat sehr früh die ersten Steingeräte zur Zerteilung von Aas hergestellt – sein Gebiss war dafür ja nicht geeignet. Ein erster Beweis eines zielgerichteten Denkens. Und daraus ist dann eine Menschheitsgeschichte des Zeitraums von vor fünf Millionen Jahren bis zu den frühen Hochkulturen geworden.

Kluge: Das ist schon eine astronomische Zahl. Wenn man sich vorstellt, dass das eine Welt ganz im Dunkeln ist und ohne Elektrizität. Das Feuer ist noch nicht beherrscht. Man muss angestrengt jagen, wenn man sich ernähren will, schnell sein, in die Lücken eindringen. Aber Sie sagen, die ersten Menschen sind gar keine Jäger oder Fleischfresser?

Parzinger: Die ersten Menschen waren Pflanzenfresser, Vegetarier. Danach kam die Aasfresserei, dann das Jagen. Und das war der entscheidende Sprung: Frischfleisch hat natürlich einen ganz anderen Nährwert als Aas. Bald darauf folgt die Treibjagd: Sie erfordert eine ganz andere Form der Organisation. Einer muss die Gruppe dirigieren, Erfahrungswissen spielt eine Rolle, auch über das Verhalten der Tiere.

Kluge: Ein Kapitel Ihres Buches heißt: Der große Sprung. Und zwar ein Sprung in die Modernität. Das ist im Bezug auf unsere Vorfahren ein überraschender Begriff …

Parzinger: Ich meine damit, es kommt etwas Neues hinzu. Der Neandertaler hat schon Gräber angelegt, der Homo erectus hat das Feuer beherrscht und Treibjagden organisiert – aber dieser Sprung zur Kunst! Diese wunderbaren Felsmalereien in Südwestfrankreich oder Nordspanien, die wirklich von der Qualität her die erste Weltkunst sind: die Umsetzung, die Perspektive, naturgetreue Wiedergaben. Und verbunden mit Musik ­– wir haben an diesen Orten die ersten Funde von Instrumenten, Flöten, der Mensch als soziales Wesen tritt hier in ganz neuer Form in Erscheinung. Das Rituelle gewinnt an Bedeutung, der Mensch beginnt sich selbst zu schmücken. Es sind eine ganze Reihe an fundamentalen Veränderungen, die wir seit dem Jungpaläolithikum (ab 40.000 v. Chr.) eigentlich beibehalten haben. Und insofern spricht man von kultureller Modernität.

Kluge: Sowie der Mensch anfängt, etwas, was die Natur vorbereitet hat, zu verändern – das ist doch der Moment?

Parzinger: Genau – und die Sprache kommt hinzu, und, was noch viel wichtiger ist, dass es Kommunikationssysteme gibt. Bilder, Symbole, die in einer Gruppe verstanden werden. Viele von diesen Symbolen bleiben uns wohl für immer unauflösbar. Aber wir können spüren, dass es Mittel der visuellen Kommunikation waren.

Kluge: Das geht also eigentlich der Verfassung voraus, denn diese braucht ja die Schrift. Was hier schon vorher den Menschen zu einer Gemeinschaft bringt, mit künstlerischen Mitteln, das sind Verständigungen: über das Jenseits, das Ich und Du, über Erfolg, Gefahren, die man fürchtet ... Sehr bewegt haben mich die Ritualfeste. Da gibt es also eingekerbte, zerschlagene Schädel, und das als Sammlung – so sind durch Feierlichkeit und Schrecken Gemeinschaften gebildet worden.

Parzinger: In jedem Fall. In der Archäologie hat man den englischen Begriff des „feasting“. Große Feste feiern. Das ist etwas, was die Menschheitsgeschichte durchzieht. Die Plätze der Höhlenmalerei waren mit Sicherheit auch Kultplätze. Es war die Phase des Umbruchs vom Wildbeutertum zur Domestikation von Pflanzen und Tieren, der Mensch wurde sesshaft. Ein Wandel im Verhältnis zur Natur – das musste verarbeitet werden. Diese Kultfeste als verbindendes Element einer Gemeinschaft werden in Umbruchszeiten besonders bedeutsam.

Kluge: Wenn Gefahr herrscht. Und diese Seite, die großen rituellen Feste, scheint, so wie Sie es darstellen, das Wichtigste gewesen zu sein: dass Menschen, die nur als Wildbeuter in der Natur etwas fanden, jetzt Agrarier werden, Pflanzen domestizieren. Denn das braucht man alles, um diese Feste zu feiern. Erst ist die Gemeinschaft da – und dann folgt die Produktivität. Das ist kein Homo oeconomicus, der das hier macht! Aber noch einmal viele Jahre zurück: Zur Erfindung des Feuers. Feuer gibt es vorher auch, aber es ist unbeherrschbar. Jetzt plötzlich kann man es in Höhlen schaffen, eine großartige Leistung. Man kann Fleisch darauf kochen, etwas haltbar machen. Außerdem kann man am Feuer erzählen, man kommt zusammen. Die Dunkelheit, die Abende werden entdeckt. Das macht eine zweite Natur im Hirn des Menschen aus, den Erzählraum, die Narration.

Parzinger: In diese Zeit fällt auch die Erfindung erster Maschinen. Die Speerschleuder zum Beispiel. Mit ihr kann man den Speer in einer Kraft und Genauigkeit von sich schleudern, wie man es mithilfe des Armes gar nicht könnte.

Kluge: Überlistung der Natur: Ich ziehe den Bogen vom Gegner, dem Tier, das ich treffen möchte, weg, in die falsche Richtung! Und jetzt fliegt der Pfeil umso mehr. Das sind sehr große Innovationen. Und für jede dieser Erfindungen brauche ich Tausende von Jahren.

Parzinger: Wir vergessen zu leicht, wie lang der Weg zu einer Veränderung war. Die Domestikation von Pflanzen und Tieren – das war keine revolutionäre Erfindung, sondern eine jahrtausendelange Auseinandersetzung.

Kluge: Sie beschreiben das Phänomen der ökologischen Bremse: Da, wo es am schönsten ist für die Menschen, wo die Natur Honig, Wild um sie herum bietet, im Süden des Niltals – da geht die Entwicklung langsam vor sich. Die Menschen werden träge, die Jahrhunderte vergehen. Es hat mich aber verblüfft, dass das nicht nur im Niltal so ist, sondern auch in Grönland, wo der Fischfang dasselbe bewirkt.

Parzinger: Ja, das ist ein interessantes Phänomen. Ähnlich etwa auf den Aleuten, der Inselgruppe vor Alaska. Dort müssen über tausend Menschen gelebt haben, die sich nur von Fischfang, von Robbenjagd ernährten, das gab es im Überfluss. Es gab gar keine Notwendigkeit, eine neue Form des Wirtschaftens zu ersinnen.

Kluge: Mit dem Aufbau Ihres Buches vollziehen Sie die Migration der Menschheit über den ganzen Planeten nach. Das ist natürlich eine hochinteressante Navigation, die die Menschheit hier gemacht hat – um alles Attraktive auf der Welt einmal zu erreichen. Und wo es ganz schlimm ist, gehen sie nicht gleich weg. Die Herausforderung, in der Nähe des Eises oder auf den hohen Gipfeln des Pamir zu sein, bringt neue Kräfte hervor. Erst wird ein neues Können entwickelt – und dann zieht man sich vor der Natur zurück.

Parzinger: Wobei es schon ein weiterer Schritt der Entwicklung ist, wenn der Mensch wirklich sesshaft lebt: Es entstehen Siedlungsgemeinschaften, die Bevölkerung wächst an – und damit entsteht Regelungsbedarf. Es gibt Probleme, die man durch Normen regelt. Gesetze gibt es noch nicht vor der Schrift, aber wir haben Hinweise, dass man schon im siebten, sechsten Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien oder auch China Stempel benutzt. Man hat also Eigentum markiert.

Kluge: Sie haben mir einmal erzählt, die Hände, die durch den aufrechten Gang frei sind, sind nicht nur für Arbeit
frei, sondern auch, damit man sich ins Fell der Mutter krallen kann. Diese Hände sind jetzt auch Ausdrucksmittel: erst die Geste, dann die Musik, dann die Sprache, und auf die Sprache setzt sich Grammatik.

Parzinger: Genau. Die Mimik gehört auch dazu. Wir wissen nicht, wie es in diesen frühen Zeiten war, wir interpretieren das so.

Kluge: Und das älteste Tier, das der Mensch domestiziert, der Hund, kann noch heute am besten auf menschliche Mimik reagieren. Da ist trotz aller Fremdheit sofort eine Nähe. Der Hund sieht mehr als mein Nachbar, etwa ob ich müde bin.

Parzinger: Der Hund ist die älteste Domestikationsleistung des Menschen. Er ist sein Begleiter. Er fällt nicht zur Last, ist aber auch kein Nutztier. Aber es war nicht so, dass einer mal auf eine kluge Idee gekommen ist und sagte, ich fange jetzt mal ein paar Tiere ein. Es ist die Auseinandersetzung und Beobachtung über Jahrtausende.

Kluge: Auch über Irrwege – Sie beschreiben die Domestikation des Pferdes: Erst scheint das Pferd Schlachtopfer zu sein, zum Verspeisen. Und dann merkt man, wie wertvoll es als Gefährte ist, wie machtvoll ein Reiter sein kann.

Parzinger: Wir haben in der nordkasachischen Steppe die ältesten Belege für die Domestikation des Pferdes. Auf diesen Siedlungsfundstellen zeichnen sich heute noch die Hausplätze ab, sodass man ohne Ausgrabung einen groben Plan zeichnen kann. Das ist faszinierend. Dort hat man ungefähr siebzig Häuser ausgegraben und Hunderttausende von Pferdeknochen, alle mit Schnittspuren. Es war klar, man hat diese Pferde im großen Stil verspeist. Und gleichzeitig beginnt dort auch die Domestikation. Sie ist wirklich eine große Revolution. Auf einen Schlag können mit einer enormen Geschwindigkeit riesige Entfernungen überwunden und Waren transportiert werden.

Kluge: Aus so viel Irrweg, Grausamkeit und Trieb ist ein Potenzial entstanden, das wir genau studieren müssen. Man sieht sehr klar in Ihrem Buch, dass der Mensch in den verschiedenen Lebensräumen bei ähnlichen Voraussetzungen unterschiedliche Wege geht. Manchmal denke ich, dass wir Menschen klüger sind als unser Verstand. Irgendetwas, ein Anker in dieser Vergangenheit, hält uns fest. Weil es so schwer war, sein Leben zu bewahren in diesen Vergangenheiten. Da stecken die Erfahrungen der Evolution drin. Die tragen wir täglich in unseren Knochen mit uns.

Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. Von Hermann Parzinger. C.H. Beck, München 2014.

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