Viel Emotion und wenig Wissen

Paul Collier schwenkt den Fokus der Migrationsdebatte - und zwar auf die Emigrationsländer

Einwanderung ist nicht per se gut oder schlecht, sondern wie bei allen gesellschaftlichen Prozessen gibt es Gewinner und Verlierer. Aber wer profitiert und wer muss die Lasten tragen? Diese Frage steht am Anfang von Paul Colliers „Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“. Das Buch ist als Fortsetzung seiner Gedanken über „Die unterste Milliarde“ geschrieben. Der Direktor des Zentrums für afrikanische Ökonomien an der Universität von Oxford will mit seiner Argumentation verhindern, dass die wohlhabenden Staaten durch eine allzu gedankenlose Einwanderungspolitik den ärmsten Ländern der Erde massiv schaden.

Die Vereinten Nationen schätzen die Zahl der grenzüberschreitenden Migranten weltweit auf über 230 Millionen. In den Staaten der Ersten Welt wächst die Angst vor dem Fremden. Zwischen Wohlstand und Armut werden deshalb neue Mauern errichtet. Sie stehen, mit Natodraht und Infrarotkameras versehen, zwischen den USA und Mexiko oder tragen im Osten Bulgariens und Griechenlands zur „Sicherung“ der „Festung Europa“ bei. In Colliers Augen sind das die falschen Maßnahmen, denn solange das große Einkommensgefälle zwischen den Ländern fortbesteht und in den armen Ländern undemokratische Verhältnisse herrschen, werden Menschen weiterhin den Sprung gen Wohlstand wagen, sei er noch so riskant.

Die Einwanderungspolitik der westlichen Welt ist bislang eine Mischung „aus viel Emotion und wenig Wissen“, schreibt Collier. Dem setzt er die geballte Rationalität mit ökonomischen Modellrechnungen und sozialwissenschaftlichen Thesen entgegen. Mit ihrer Hilfe zeichnet er die Prozesse der Einwanderung und ihre Folgen nach, um „eine den Aufgaben gewachsene Einwanderungspolitik“ zu formulieren. Seine Schlussfolgerungen sind weniger liberal, als man zunächst bei einem Autor annehmen dürfte, der sich bislang noch in jedem seiner Werke auf die Seite der Ärmsten der Welt gestellt hat.

Ein grundsätzliches Missverständnis der Debatten ist, Migranten würden zu diesen Ärmsten der Armen gehören. Paul Collier ist anderer Meinung. Nach Auswertung zahlreicher Studien kommt er zu dem Schluss, dass sie die eigentlichen Gewinner der Migration sind. Oft sind sie die Hoffnungsträger ganzer Familien, in die „investiert“ wurde, um die Bildungs- und Qualifikationsanforderungen zu erfüllen, die zur Einreise in eines der reichen Länder notwendig sind. Sie gehören zur gut ausgebildeten Elite ihrer Herkunftsländer. Ihren Familien danken sie den Vertrauensvorschuss mit Geldüberweisungen und der Möglichkeit des Familiennachzugs.

Die rosigen Aussichten auf ein besseres Leben führen in den Augen Colliers dazu, dass es kein Einwanderungsgleichgewicht geben kann. Die Wanderung aus den ärmsten Gesellschaften in den wohlhabenden Norden würde immer weitergehen, bis die „unterste Milliarde“ am Boden liegt. Colliers Rezept dagegen heißt Einwanderungsbegrenzung, und zwar aus mehreren Gründen.

Für die wohlhabenden Aufnahmegesellschaften hat eine maßvolle Einwanderung kaum einen spürbaren Effekt, weder kurz- noch langfristig. Collier demonstriert dies anhand der Dynamiken auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Bildungs- und Lohnsystem und an demografischen Aspekten. Das Gegenteil ist aber bei einer unbegrenzten Einwanderung der Fall. In all den genannten Bereichen würde Konkurrenz zwischen Immigranten und der Aufnahmegesellschaft entstehen. Das Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre gefährdet.

Schwerwiegendere Folgen hätte eine unbegrenzte Einwanderung aber für die Zurückgebliebenen in den Herkunftsgesellschaften, die ihre Elite in die Staaten der entwickelten Welt entsenden. Viele beklagen dies als Braindrain, als Fachkräfteverlust, dem Oxford-Ökonom ist das zu einfach. Migration sei vor allem eine Chance. Bei der Debatte um die Elitenmigration werde vergessen, dass die Mehrheit der potenziellen Migranten, die von einer besseren Schulbildung profitiert haben, am Ende den Sprung außer Landes gar nicht schafft. Sie trägt laut Collier zu einem beachtlichen Bildungsgewinn, einem Braingain, in ihren Gesellschaften bei. Die Auswanderung der Gebildeten müsse also „im Rahmen bleiben“ – vor allem, wenn es um Talente aus den Ländern der „untersten Milliarde“ geht. Denn eine unbegrenzte „Auswanderung der Innovativen raubt diesen Gesellschaften ausgerechnet jene Fähigkeiten, die sie am nötigsten brauchen, um mit der Moderne Schritt halten zu können“.

Hier stehen die einkommensstarken Länder in der Verantwortung, denn „indem sie ein Maß für die Einwanderung in ihre Gesellschaften bestimmen, geben die Regierungen der reichen Länder unabsichtlich auch das Maß für die Auswanderung aus den armen Ländern vor“.

Colliers Argumente versachlichen die Debatte um Einwanderung und ihre Grenzen, aber sie verfehlen auch einen Teil der Wirklichkeit. Krisenmigration spielt in seinem Modell nur eine kleine Rolle. Es ist zu befürchten, dass sich die wohlhabenden Staaten nur allzu gern auf Collier beziehen, wenn sie ihre Grenzen noch höher ziehen. Ob damit der untersten Milliarde geholfen ist, darf bezweifelt werden.

Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Von Paul Collier. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Siedler-Verlag, München, 2014.

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