Treue bis in den Tod
Die sizilianische Cosa Nostra wurde als Geheimbund gegründet. Auch heute kommt zu ihr nur, wer ihre Rituale und Gebote kennt
5. November 2007. Der sizilianischen Polizei gelingt es, den seit 25 Jahren flüchtigen Mafia-Boss Salvatore Lo Piccolo zu verhaften. In seinem Besitz finden die Ermittler einen unverhofften Schatz: Ein Dokument mit dem Titel "Rechte und Pflichten" offenbart die zehn Gebote der Cosa Nostra, eine Art Verfassung für "Ehrenmänner". Nicht nur die Verschwiegenheit der Organisation soll mit diesem Verhaltenskodex gewahrt werden.
Ethische Werte wie Treue und Mäßigung werden ebenso angemahnt wie eine intakte Sexualmoral. Von einem biblischen Unterton begleitet, lautet beispielsweise das fünfte Gebot: "Es ist Pflicht, der Cosa Nostra jederzeit zur Verfügung zu stehen, selbst wenn die Frau kurz vor der Entbindung steht." Das zehnte Gebot ist das wichtigste, weil es erklärt, wer nicht der Cosa Nostra angehören kann: "Wer einen engen Angehörigen bei den Sicherheitskräften hat. Bei wem Fälle von Untreue in der Familie vorliegen. Wer sich schlecht verhält und moralische Werte missachtet."
Es ist das erste Mal, dass die Öffentlichkeit einen Blick in das geheimnisvolle Leben der sogenannten Ehrengesellschaft werfen kann. Dass es Aufnahmerituale und Gebote in der Mafia gibt, war bekannt. Man nahm jedoch an, dass es sich dabei um ungeschriebene Gesetzte handelt, mündlich überliefert, von Ehrenmann zu Ehrenmann. Nun war endgültig klar, dass die Cosa Nostra ein elitärer Verbund mit eigenen Ritualen und Gesetzten ist. Richter und Mafia-Ermittler Giovanni Falcone bemerkte schon vor 15 Jahren, dass Mafioso zu werden mit der Konversion zu einer Religion vergleichbar ist. So wie man nie aufhört Priester zu sein, bleibt man auch immer Mafioso. Was das bedeutet, erklärt der geständige Mafia-Angehörige (Pentito) Antonino Calderone: "Wir sind Mafiosi, alle anderen sind nur gewöhnliche Leute. Wir sind uomini d'onore (Ehrenmänner), weil wir die Elite unter den Kriminellen sind. Wir sind die Schlimmsten von allen!"
Bezeichnend für eine Elite ist die Abgrenzung gegenüber ihrer Umwelt. Doch auch eine Elite braucht Nachwuchs. Deswegen spielen Initiationsriten bei der Mafia eine wesentliche Rolle. Um sich für die Mitgliedschaft zu qualifizieren, muss der Kandidat eine Prüfung bestehen und einen Mord oder bewaffneten Raubüberfall begehen. Danach geschieht die Aufnahme, immer in Gegenwart anderer Mitglieder. Neben den zehn Geboten fanden die Ermittler bei der Verhaftung Lo Piccolos auch ein kleines Heiligenbild mit dem Aufnahmeschwur der sizilianischen Mafia: "Ich schwöre, der Cosa Nostra treu zu sein. Sollte ich untreu werden, so soll mein Fleisch verbrennen wie dieses Bild."
Von mehreren Pentiti wurde bestätigt, dass das Initiationsritual immer gleich abläuft: Der Neuling wird in einen Finger oder Daumen gestochen, lässt sein Blut auf das Heiligenbild tropfen und leistet dabei den Eid auf die Familie sowie die Normen und Gesetze der Cosa Nostra. Anschließend wird das Heiligenbild verbrannt. Die Mitgliedschaft ist ausschließlich Männern vorbehalten. Frauen spielen jedoch im Umfeld eine wichtige Rolle, da sie es sind, die das Wertesystem der Cosa Nostra an ihre Kinder weitergeben.
Um den inneren Zusammenhalt zu stärken und sich gleichzeitig abzugrenzen, legitimiert sich auch eine Elite wie die Cosa Nostra durch einen Ursprungsmythos. Bei der Mafia gibt es die Legende von Osso, Mastrosso und Carcagnosso, drei Rittern aus Spanien, die um 1400 auf der Flucht waren, nachdem sie einen Edelmann ermordete hatten, um die Ehre ihrer Schwester zu rächen. Sie blieben 29 Jahre versteckt, entwickelten einen Verhaltenskodex und gründeten einen Geheimbund. Osso weihte sein Leben dem heiligen Georg und gründete die Mafia. Mastros gab sich der Muttergottes hin und rief die Camorra in Neapel ins Leben. Carcagnosso schließlich verehrte den Erzengel Michael und gründete in Kalabrien die 'Ndrangheta. In diesem Mythos spiegeln sich die archaische Grundzüge der Mafia deutlich wider: Religion, Ehre und Geheimbund. Diese Elemente sollen Konsens und Gehilfenschaft in der sizilianischen Bevölkerung erzeugen und dem Korpsgeist einer Gruppe dienen, die ohne Skrupel sowohl Richter und Polizisten als auch Frauen und Kinder töten kann.