Eliten

Ohne Rat und Tat

Früher haben sich die Intellektuellen gesellschaftlich engagiert. In der heutigen Medienwelt bleibt ihre Kritik wirkungslos

Elite ist ein extrem konservativer Begriff. Er legt nahe, dass es eine soziale Klasse gibt, die oben steht und den Durchblick hat. Das ist aber nicht mehr zeitgemäß, nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen. Sogenannte politische Eliten oder Finanzeliten verlieren zusehends die Kontrolle über ihre Bereiche. Selbst wo der Wille da ist, gegenzusteuern, fehlt es Akteuren der Finanzwelt an technologischen Mitteln und dem Wissen darüber. Damit ist auch die Zeit, in der Intellektuelle andere Eliten mit ihren Einsichten auf den richtigen Weg bringen wollten, vorbei.

Die Bedeutung von wichtigen Philosophen ist im Vergleich zu früher zurückgegangen. Intellektuelle Einmischungen, die Wirkungen erzielen, nehmen bedenklich ab. Es ist zu bezweifeln, ob Philosophen mit ihrem allgemeinen, oft realitätsfernen Wissen heute gesellschaftliche Mißstände ansprechen können. Die Probleme haben sich mit der Zeit verändert, sind immer spezieller geworden.

Was kann also der allgemeine Philosoph beitragen, wenn ihm das spezifisches Fachwissen fehlt? Mit einem guten Herzen, Pamphleten oder Aufrufen ist es nicht getan. Wenn man nicht versteht, auf welchen Algorithmen etwa die Finanztechnologie beruht und welche Realität sie schaffen, helfen keine moralischen Appelle. Ohnehin übernehmen die Medien schon zur Genüge die Rolle des kritischen Mahners. Deswegen können wir nur mit einem informierten politischen Willen Änderungsvorschläge machen.

Einer der wichtigsten Intellektuellen der vergangenen Jahrzehnte ist Michel Foucault. In seiner Arbeit und Praxis war er politisch aktiv und ist ein gutes Beispiel dafür, wie Theorie positive Effekte erzielen kann. Seine historischen Studien über den Wahnsinn oder die Überwachung verband er in seinen Vorlesungen mit konkreten gesellschaftlichen Problemen und einer politischen Ebene. Er setzte sich für die Rechte französischer Gefängnisinsassen ein.

Dieses Interesse entstand in Wechselwirkung mit seiner Arbeit dazu, wie sich Überwachungs- und Strafsysteme historisch gewandelt hatten. Foucault äußerte nicht einfach humanistische Appelle, sondern baute auf ein profundes historisches und politisches Interesse an einem bestimmten Thema. Dabei lieferte er keine Handlungsvorgaben, die eine hysterische Mediengesellschaft braucht, und erzielte dennoch einen nachhaltigen Effekt. Gleichzeitig hatte Foucault große Einwände gegen das Konzept des Intellektuellen. Das Klischee des moralisierenden Schwarz-Weiß-Zeichnens trifft heute leider weiterhin auf die meisten Intellektuellen zu.

Ein gutes Beispiel dafür ist Bernard-Henri Lévy. Er fühlt sich als Intellektueller berufen und meint, eine moralische Instanz spielen und auf die Humanität pochen zu müssen. In deren Namen war er 2011 unterwegs und traf sich im krisengeschüttelten Libyen mit Mustafa Abd al-Dschalil, dem Anführer libyscher Rebellen, die sich gegen Muammar al-Gaddafi erhoben hatten. Damit produzierte er einen medialen Aufruhr, eine Betroffenheit, die meines Erachtens das Gegenteil von Verstehen und Einsicht ist. Lévy bewegte schließlich den französischen Präsidenten Sarkozy zur Intervention in Libyen. Es bleibt die Frage, mit welchem Wissen um geopolitische Verflechtungen und Interessen er gehandelt hat. Wenn man sich das Resultat heute anschaut, wird offensichtlich, wie wenig erfolgreich dieses Engagement war. Die Betroffenheit, die erzeugt wurde, ist vielmehr ein Zeichen für die apolitische, postdemokratische Gesellschaft, in die wir uns verwandeln. Dennoch, Intellektuelle haben es sich auch selbst zuzuschreiben, dass ihr Schwadronieren nicht mehr ernst genommen wird. Es ist klar geworden, dass sie für die Probleme, die sie kritisieren, kaum probate Lösungen anbieten.

An den Universitäten sollte eigentlich Intellektualität produziert werden, die Ausbildung leistet das aber nur selten. Wissenschaftliche Mitarbeiter in den deutschen Geisteswissenschaften verwalten mehr, als dass sie lehren oder forschen. Die Arbeitsverhältnisse des akademischen Mittelbaus sind prekarisiert und niemand tut etwas dagegen. Die meisten hoffen, irgendwie in das Rennen um eine Stelle auf Lebenszeit zu kommen. Sie wissen, dass es ethisch, intellektuell und politisch falsch ist, und tun es trotzdem; so funktioniert Ideo­logie. Es wird abstrakt über das Problem doziert, ohne dass gehandelt wird. Hier bräuchte es eine politische Organisation und Willensbildung. Man muss die Öffentlichkeit suchen.

In Frankreich hat die Philosophie einen hohen Stellenwert, was unter anderem am französischen Schulsystem liegt. Außerdem hat die französische Nachkriegsphilosophie weltweit Bedeutung erlangt. Michel Foucault und der Poststrukturalismus, der Vitalismus eines Gilles Deleuze, Jacques Derrida und die Dekonstruktion – die deutsche Philosophie befindet sich dagegen, was ihre gesellschaftliche Wirkung betrifft, in einer Krise. In den USA sind Intellektuelle noch marginalisierter als hier. Die Medienkultur dort ist eine ganz andere, es gibt kaum breitenwirksam gelesene Feuilletons. In Großbritannien sind die Universitäten teilweise noch prekärer finanziert als in Deutschland. Trotz allem kommen aus dem angloamerikanischen Raum gerade interessante Impulse aus der Philosophie, die ein größeres, jüngeres Publikum erreichen. So versuchen Vertreter der spekulativen Philosophie und des Akzelerationismus, ein neues, zeitgemäßes Problembewusstsein zu schaffen, das mehr ist als bloße, moralisierende Kritik.

Intellektueller Widerstand muss heutzutage anders verstanden und praktiziert werden. Wirksame Effekte haben heute nicht die Che Guevaras, die die Waffe in die Hand nehmen, oder jene, die sich in Libyen hinstellen, weil sie eine Arbeit über die aristotelische Ethik geschrieben haben. Momentan sind es Experten, Deserteure und Whistleblower wie Edward Snowden, die etwas bewegen. Man muss sich fragen, wo die Snowdens der Finanzwirtschaft sind. Wo sind die Leute, die in ihren Bereichen das nötige Wissen haben, um Missstände aufzudecken? Gleichzeitig könnte sich jeder Mensch, der über seine Praxis besser informiert ist, einmischen. Ein Beispiel: Wer den Facebook-Algorithmus versteht, kann dafür sorgen, dass soziale Medien einer besseren Gemeinschaftsbildung dienen, nicht einem börsendotierten Unternehmen in den USA.

Ich glaube und hoffe, dass sich eine neue Generation von politischen Theoretikern Gehör verschafft, die auf die veränderte geopolitische und finanzpolitische Situation mit anderen Strategien und einer anderen Theorie reagiert. Diese Generation hat gelernt, dass in Großbritannien eine Million Menschen auf die Straße gehen können und dass der Irakkrieg trotzdem stattfindet, weswegen es neuer Formen des Widerstandes bedarf. Von diesen Leuten haben wir noch nicht genug. Wir brauchen mehr von ihnen.

Protokolliert von Fabian Ebeling