Kunst treibt sozialen Wandel an

Immer häufiger werden Kultur- und Kunstprojekte mit sozialen Zielsetzungen verknüpft und dafür auch gefördert. Ist das wünschenswert? Oder laufen wir Gefahr, in Diskussionen um Teilhabe und Integration den Blick für ihren eigentlichen Wert zu verlieren?

Jeder von uns hat eine Vorstellung von einer idealen Gesellschaft. Mal steht der Frieden im Vordergrund oder die Würde des Menschen, mal ist es die saubere Umwelt. Wir alle sind dafür verantwortlich, unsere Gesellschaft zu formen. Wir können sie positiv oder negativ beeinflussen. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt die Kunst. Denn anders als Wirtschaft, Politik und große Teile der Medien ist sie frei in ihrem Handeln und ihren Ausdrucksformen. Immer mehr Künstler reflektieren heute das Zeitgeschehen und schaffen Werke von gesellschaftlicher Tragweite.

Die US-amerikanische Künstlerin Jackie Sumell etwa setzt sich seit Jahren für die Beendigung von Isolationshaft in Gefängnissen ein. Aus einem Traum schuf sie Wirklichkeit. Ihr Projekt "Herman's House" basiert auf der Lebensgeschichte von Herman Wallace, der vier Jahrzehnte in einem US-Gefängnis in Isolationshaft saß. Sumell nahm mit Wallace Kontakt auf und fragte ihn, wie sein Traumhaus außerhalb der winzigen Gefängniszelle aussehen würde. Derzeit wird das Haus nach seinen Vorstellungen tatsächlich gebaut. Es soll eine offene Begegnungsstätte in New Orleans, der Geburtsstadt von Wallace, werden. "Ich habe die Absicht den Teufelskreis Gefängnis zu durchbrechen. Das Projekt bietet viel Raum für Kunst, Bildung und Ideen", sagt die Künstlerin. "Herman's House" ist ein wunderbares Beispiel direkt handelnder Kunst, die gesellschaftlichen Wandel fördert.

Ähnlich agiert die Künstlergruppe CitéCréation aus Frankreich. Sie schafft einen völlig neuen öffentlichen Raum. In der Stadt Chartres verwandelten die Fassadenkünstler einen grauen, unauffälligen Sozialbau in ein leuchtendes, lebenswertes Wohnobjekt. Einer der Gründe für die hohe Qualität, Akzeptanz und Identifikation des Projekts ist der partizipatorische Charakter. Die französische Schriftstellerin Cécile Philippe ist beeindruckt von dieser Art des Umgangs mit sozialem Wohnungsbau: "Die Atmosphäre der Stadtteile ist durch greifbare Zärtlichkeit gemildert worden", schreibt sie. Auch das Kunstprojekt "Reichtum/Wealth" ist ein kleiner Schritt in Richtung gesunde Gesellschaft.

In Kooperation mit Betreibern von Wohnungslosenunterkünften stattete ich diese vor einigen Jahren mit Kronleuchtern, Holzparkett, edlen Tapeten und strahlenden Farben aus - mit allem, was wir normalerweise nicht mit einem Obdachlosenheim verbinden. So entstanden die beiden "schönsten Obdachlosenheime der Welt" in Moskau und Berlin. Leitgedanke der Arbeit: Wir können unsere Welt verändern. Für Hunderte von Obdachlosen hat sich die Lebenswirklichkeit während ihres Aufenthaltes in den beiden Heimen tatsächlich verändert. Viele fanden wieder zurück ins Leben, erfuhren dank künstlerischer Neugestaltung Würde und Respekt.

Mittlerweile finden in dem Berliner Haus Schöneweide Autorenlesungen und Theateraufführungen statt, auch eine Obdachlosen-Uni wurde gegründet. Hier hat Kunst sozialen Wandel in Bewegung gesetzt. In den vergangenen Jahren entstand eine Fülle neuer Kunstformen, die künstlerische Mittel dazu nutzen, soziale Dynamik zu beeinflussen.

Kunst und Leben verschmelzen miteinander, so wird die zeitgenössische Kunstpraxis neu definiert und Künstler schwärmen aus, verlassen den White Cube und wirken auch auf soziale Sphären des Lebens ein. Zu ihnen gehören zum Beispiel Santiago Sierra ("Blonde Europäer") und Laurie Jo Reynolds ("Legislative Art"). Durch soziale Missstände werden Kunstschaffende vielfach zu außergewöhnlichen Arbeiten inspiriert, die wiederum sozialen Wandel anregen.

Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden: Was in den 1960er- und 1970er-Jahren die politische Kunst war, ist heute die gesellschaftlich engagierte Kunst. Der Arbeitsbereich ist vielfältiger geworden. Neben rein sozialen Themen stehen bei vielen Künstlern und Künstlerinnen auch Umwelt, Energie, Menschenrechte oder Systemkritik im Vordergrund. Sie brechen zunehmend aus ihrer traditionellen Rolle aus und experimentieren mit neuen Arbeitsweisen.

Sie greifen direkt in gesellschaftliche Strukturen ein, übernehmen Verantwortung und setzen Veränderungen in Gang. Viele haben erkannt, dass die Welt weit vom Ideal entfernt ist, deshalb zeichnen sie ein eigenes Zukunftsbild und schaffen so eine künstlerische Vision von einer gesunden Gesellschaft. Sozialer Wandel mithilfe von Kunst ist also nicht nur möglich und wünschenswert, die Kunst ist prädestiniert dafür, ihn zu schaffen - das könnte der Titel für die meisten Werke dieser engagierten Künstler und Künstlerinnen sein.