„In Haiti müssen Ärzte härter arbeiten“

Ein Gespräch mit dem deutschen Chirurgen Thomas Bohrer und seinen haitianischen Kollegen, dem Anästhesisten Adelin Charles und dem Chirurgen Jean-Louis Godson, über Ärzteaustausch und Kulturfragen in der Medizin

Dr. Bohrer, Dr. Godson, Dr. Charles, Sie reisen im Rahmen Ihres Bamberger Haitiprojekts zwischen Deutschland und Haiti hin und her. Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?

Thomas Bohrer: Wir haben uns nach dem Erdbeben in Haiti 2010 kennengelernt in einem Feldlazarett nahe der Hauptstadt Port-au-Prince. Wir arbeiteten damals zusammen in einem OP-Zelt ohne Klimaanlage. Es war wahnsinnig heiß, 40 bis 45 Grad.

Welche anderen Herausforderungen gab es?

Bohrer: Im Feldlazarett – eines für 200.000 Bewohner – hatten wir kein einziges Beatmungsgerät. Dr. Charles musste also den Patienten intubieren und während der OP mit dem Beutel von Hand beatmen.
Adelin Charles: Ich übernahm quasi die Funktion der Lunge. Und alle zwei, drei Minuten wurde der Blutdruck gemessen. Wenn die Hände oder Augen bläulich werden, heißt das: Der Patient braucht mehr Sauerstoff. Wir arbeiten in Haiti mit einfachen Mitteln. Wir hören, sehen, riechen.

Herr Bohrer, warum sind Sie nach Haiti gegangen?

Bohrer: Ich interessiere mich seit zwanzig Jahren für die Arbeit im Ausland. Ich habe auch schon in Somalia und Kenia gearbeitet. In Haiti war ich zum ersten Mal im Juli und August 2010. Ich ersetzte dort einen Chirurgen, der an einem Herzinfarkt gestorben war. Sieben Monate zuvor hatte es dieses große Erdbeben gegeben. Danach arbeiteten 7.000 NGOs in Haiti. Ein halbes Jahr später gab es die nächs­te Katastrophe: eine Cholera-Epidemie. Auf deren Höhepunkt verließen viele Organisationen das Land!

Warum?

Bohrer: Zum einen hatten sie kein Geld mehr, zum anderen gab es weniger Medienaufmerksamkeit. Wir nennen das den CNN-Faktor. Nur wenn er hoch ist, wollen viele Leute ins jeweilige Land, um dort zu helfen. Es gab aber auch Ausnahmen wie „Ärzte ohne Grenzen“, die in Haiti blieben. Und Sie sehen, auch meine Kollegen aus Haiti und ich arbeiten immer noch zusammen. Nachhaltigkeit ist unser wichtigstes Ziel.

Was heißt das konkret?

Bohrer: Ich möchte nicht zwei Wochen als Lungenarzt in Haiti arbeiten und dann abreisen. Das bringt keinen langfristigen Erfolg. Insbesondere nicht, wenn ich mein eigenes Team mitbringe. Viele Organisationen arbeiten aber so. Manchmal lassen sie auch technische Ausrüstung im Ausland zurück, aber danach weiß niemand dort, wie man sie benutzt. Unser Ansatz ist anders: Die Ärzte aus Haiti sind die Hauptpersonen. Die deutschen Kollegen sind quasi nur Assistenten. Das macht einen großen Unterschied.

Sie ermöglichen Besuche Ihrer beiden Kollegen aus Haiti in Bamberg. Wer bezahlt dafür?

Bohrer: Die Reisen werden über Spenden finanziert. Ich war 2013 das letzte Mal in Haiti und würde gerne Ende dieses Jahres wieder dorthin gehen. Das bezahle ich dann aber selbst. Das Projekt ist als Netzwerk angelegt. Bisher nehmen fünf Kliniken und drei niedergelassene Ärzte in Bamberg teil.
Charles: Und wir kommen, wenn wir in Haiti Urlaub haben. 2011 waren wir zum ersten Mal für fünf Wochen in Bamberg, dann wieder 2012 und zuletzt 2014.

Was bringt Ihnen dieser Austausch zwischen Haiti und Deutschland?

Jean-Louis Godson: Als ich Dr. Bohrer im Feldlazarett kennenlernte, kannte ich mich bei der Lungenchirurgie nicht gut aus. Wir haben in Haiti aber viele Patienten mit Lungenproblemen. Ich habe in Bamberg viel darüber gelernt, wie man an der Lunge operiert.
Charles: Und ich habe viel Neues erfahren über die Narkose bei Patienten, deren Lunge operiert wird. Interessant war für mich auch das Schmerzmanagement.
Bohrer: In Haiti habe ich gelernt, unter schwierigen Bedingungen die beste medizinische Hilfe zu bieten. Und ich habe bei meinen Kollegen gesehen, wie wichtig die Anamnese für sie ist – und überhaupt für einen Arzt, was in Deutschland leider zunehmend in Vergessenheit gerät. Ein weiterer wichtiger Punkt: In Deutschland müssen Ärzte hart arbeiten, um Geld für das Krankenhaus und sich selbst zu verdienen. In Haiti müssen die Ärzte noch härter arbeiten. Sie haben aber nicht diesen ökonomischen Druck durch die Krankenhausverwaltung.
Charles: In Haiti haben wir nicht diesen Druck von der Administration. Aber der Zugang zum Gesundheitswesen für die Patienten ist anders. In Deutschland kann man früh alle möglichen Krankheiten diagnostizieren. In Haiti sehen wir unsere Patienten meist erst, wenn die Krankheit schon weit vorangeschritten ist.

Sie haben den Begriff der interkulturellen medizinischen Ethik geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Bohrer: Es handelt sich um einen völlig neuen Ansatz, ethische Aspekte in der Medizin interkulturell zu reflektieren. Bei unserem Konzept ist die Konzentration auf den einzelnen Menschen und die ärztliche Humanität besonders wichtig. In Deutschland werden Ärzte rein naturwissenschaftlich ausgebildet und wenden ihre Kenntnisse fast wie Techniker an. Humanmedizin heißt aber, dass man den Menschen als Menschen behandelt. Das vergessen viele Ärzte in unserer modernen Hightech-Medizin. Die interkulturelle medizinische Ethik beinhaltet, dass man ethische medizinische Themen, die interkulturell relevant sind, analysiert – und dabei unterschiedliche Denkweisen und Lebensformen anerkennt. Dieser Ansatz fordert nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Handeln heraus.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wann kulturelles Wissen für Ärzte wichtig wird?

Bohrer: Die meisten Menschen in Haiti sind katholisch. Es gibt aber zum Beispiel auch eine Voodoo-Religion.
Godson: Haiti ist eine alte afrikanische Kolonie. Die Leute haben also Traditionen aus Afrika übernommen. Wenn der Patient zum Beispiel mit einer komplizierten Bauchfellentzündung kommt, hat er manchmal eine Substanz eingenommen, die ihm ein Priester gegeben hat. Wenn du das nicht weißt, kann es schwer werden, den Patienten zu behandeln. Manchmal verabreichen die Priester etwas, das sie zum Beispiel aus Kräutern zusammengemischt haben, und das kann sehr giftig sein. Dabei wollen sie die Patienten heilen. Und manchmal sagen die Priester dann nach einer Woche: Ich habe meinen Teil getan, jetzt geh zum Arzt und lass ihn seinen Teil machen. Der Patient kommt manchmal erst in einem sehr kritischen Zustand zu uns.
Charles: Man muss auch die Bevölkerung aufklären. Vor allem auf dem Land gehen die Leute zu den Heilern. Der Priester verdient auch daran. Deshalb hat der Patient, wenn er ins Krankenhaus kommt, kein Geld, weil er dem Priester alles gegeben hat. Aber man muss auch sagen: Manchmal wirkt die Kräutermedizin der Priester tatsächlich. Oft aber auch nicht.

Wie viel Zeit haben Sie für einen Patienten, wenn es nicht gerade eine Katastrophe gegeben hat?

Charles: Das hängt davon ab, wie viele Patienten auf dich warten. Manchmal gibt es hundert oder zweihundert Patienten an einem Tag. Die musst du dann alle sehen. Ganz kurz. Denn am nächsten Tag hast du vielleicht wieder hundert neue. Normalerweise sollte ein Arzt etwa zwanzig Patienten am Tag betreuen. Manchmal habe ich zwei Minuten für einen Patienten, manchmal zehn oder zwanzig.

Sie schicken wirklich niemanden weg, wenn zweihundert Patienten warten?

Charles: Manchmal kommt der Patient von sehr weit weg, ist zwei Stunden gelaufen, um den Doktor zu sehen. Dann kannst du ihn nicht wegschicken. Vielleicht stirbt er auf dem Rückweg, ohne eine Diagnose erhalten zu haben. Deshalb ist es besser, sich jeden Patienten kurz anzuschauen, denn es kann sein, dass du der einzige Arzt bist, den dieser Mensch in seinem Leben sieht.

Welche Rolle spielt das Internet für Ärzte in Haiti?

Charles: In dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, senden wir Befunde in die USA, um dort Rat von Ärzten einzuholen. Wir mailen zum Beispiel einen CT-Scan oder Röntgenbilder. Und wir haben eine Vereinigung für Chirurgen, die einmal in der Woche eine Videokonferenz abhält mit Ärzten aus anderen Teilen der Welt.
Bohrer: Wir hatten die Idee, das in Zukunft auch im Süden Haitis anzuwenden. Denn dort gibt es diese Technologie noch nicht. Es wäre gut, dort ebenfalls Videokonferenzen abzuhalten, etwa mit Ärzten in Deutschland oder in den USA. Ich kenne Kollegen, die bereit wären, sich daran zu beteiligen. Unentgeltlich.

Das Interview führte Carmen Eller