Das Krisenkarussell

Von Klimawandel bis Ebola: Glaubt man Politik und Medien, dann taumeln wir von einer Katastrophe in die nächste. Doch was ist das überhaupt, eine Katastrophe? Gedanken zu einem Begriff, der oft benutzt, aber nur selten verstanden wird

Galten Katastrophen früher als Ereignisse, die Jahrzehnte und Jahrhunderte prägten und gerade durch ihren Seltenheitswert definiert waren, so reiht sich heute scheinbar eine Katastrophe an die nächste. Vulkanausbrüche, Tsunamis, Flugzeugabstürze, Reaktorunfälle, Kriege, Terror und Cyberwar, die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. In der globalisierten Welt werden Katastrophen massenmedial erfahrbar und damit allgegenwärtig. Wo sie sich wie schon im Fall des Reaktorunglücks von Tschernobyl über Grenzen von Raum und Zeit hinwegsetzen, oder sich wie aktuell bei Ebola auszubreiten drohen, rücken die Ereignisse in bedrohliche Nähe.

Der Genfer His­toriker François Walter attestiert der Gegenwart eine „Hochkonjunktur des Alarmismus“. Und auch der amerikanische Soziologe Craig Calhoun spricht unter Verweis auf die steigende Zahl humanitärer Einsätze von einer „wave of emergency“, die bewirke, dass der Ausnahmezustand zur Norm werde: „Nicht die eine große Not“ sei es, „die wir jetzt sehen, sondern unzählige kleinere werden von den Normen der Imagination schon als Ausnahme gewertet und erscheinen gleichwohl in permanenter Wiederholung als normalisiert.“

Katastrophen werden heutzutage zwar ständig ausgerufen, aber nur selten erörtert. Die zentrale Frage, was eine Katastrophe überhaupt ist, rückt in Medien und Politik zunehmend in den Hintergrund. Dabei bleibt festzuhalten, dass sich Katastrophen nicht aus sich selbst, sondern vor allem aus ihrem Kontext erklären. Es ist zum Beispiel ein Irrtum bei Vulkanausbrüchen von Naturkatastrophen, zu sprechen als wäre hier die Natur selbst der Akteur, der sich non-konform verhielte. Das Gleiche gilt für Tsunamis oder Erdbeben.

So hat angesichts der Zerstörung Lissabons schon Jean-Jacques Rousseau das Katastrophenereignis aus dem Naturzusammenhang gelöst, wenn er in einem Brief an Voltaire im August 1756 schreibt, „dass nicht die Natur dort zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken versammelt hatte und dass, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, die Verheerungen weit geringer gewesen und vielleicht gar nicht geschehen wären.“ Entsprechend ist also auch der Klimawandel kein Problem des Klimas, sondern ein genuin soziales, das Erwartungen betrifft, die auf die Natur projiziert werden.

Katastrophen sind also entgegen der gängigen Wahrnehmung zunächst einmal gar keine Ereignisse, sondern kommunikative Akte, die sich immer erst aus der Perspektive einer zum Handeln aufgeforderten Instanz erklären. Nicht das Ereignis selbst gibt den Ausnahmezustand vor, sondern verschiedene Institutionen und Akteure. Sie richten den sozialen Raum der Katastrophe kommunikativ ein, teilen ihn in Gefahren und Schutzzonen auf, trennen Retter von Opfern und Opfer wiederum von Überlebenden. Sie schneiden den Ereigniskontext sinnhaft zu und perspektivieren ihn.

Das geschieht nicht zuletzt, um Bedarfe abzuleiten und auf diese Weise Handlungsträgerschaft zu reklamieren. Von der Hilfsorganisation über den Staat oder die Staatengemeinschaft bis zum börsennotierten Wiederaufbauunternehmen formuliert jede Institution, was sie hinsichtlich des schrecklichen Ereignisses zu tun gedenkt. Sie bescheinigen sich so Relevanz, rechtfertigen ihre Budgets und versuchen sich Marktanteile respektive geostrategische Einflussnahme zu sichern. Insofern haftet der aktuellen Begriffsverwendung etwas Doppelsinniges an, wie der Katastrophensoziologe Wolf Dombrowski einmal erklärt hat: „Die Katastrophe wird von der dafür vorgesehenen Problemlösung aus definiert.“ In der katastrophischen Situation wird sich des eigenen Zuständigkeitsmonopols versichert.

In der öffentlichen Diskussion liegt das Augenmerk jedoch stets auf institutionellen Maßnahmen und Reaktionen. Was kann angesichts einer Katastrophe getan werden? Wie kann am besten reagiert und Schaden begrenzt werden? Dabei fällt unter den Tisch, dass es oft die Institutionen selbst sind, die kritische Ereignisse als Katastrophen deklarieren und damit nicht zu selten auslösen. Mit dem Eintritt der Katastrophe erfolgt ja gerade, wie Dombrowski es formuliert, nichts anderes als die „Realfalsifikation“ sämtlicher technischer, organisatorischer oder kultureller Formen, die das Ereignis hätten verhindern und Überleben hätten sichern sollen. Katastrophenmanagement erweist sich als eine Art Reservekompetenz der handelnden Instanz, die, etwa im Fall des Staates, bereits versagt hat. Mit dem Eintritt der Katastrophe wird das Versagen sichtbar.

Statt dieses Versagen näher zu analysieren, beschäftigt man sich in der öffentliche Debatte jedoch lieber mit der Beschreibung katas­trophischer Ereignisse. Es wird mit bekannten Superlativen wie Hitzewelle oder Extremniederschlag gearbeitet und nicht einmal das Wort Katastrophe selbst scheint das Verlangen nach Übertreibung noch zu stillen. Vielmehr werden Adjektive wie „absolut“, „verheerend“ oder „unvorstellbar“ angehängt, um sich in den Katastrophenerklärungen gegenseitig zu überbieten.

So entsteht die Gefahr, dass komplexere, ereignisauslösende Zusammenhänge wie etwa Umwelteingriffe im Vorfeld des Ereignisses aus dem Blick geraten und Verantwortung abgewiesen wird. Die Ursachen werden externen Faktoren zugeschrieben. Es wird sozusagen höhere Gewalt attestiert. Dies geschieht etwa im Fall von Lawinenunglücken, deren Ursache nur bei oberflächlicher Betrachtung Schneefälle sind, tatsächlich ist es vielmehr die konkrete Veränderung der Landschaft durch die touristische Nutzung.

Die Folge ist, dass die globale Risikowahrnehmung insgesamt beständig bis zu dem Punkt umverteilt wird, an dem vorhandene Kenntnisse über potenzielle Lagen und deren Ursachen in fatale Unkenntnis umschlagen. Das Katastrophenkarussel wird angetrieben durch Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Was schließlich in den Fokus gerät und welche Interventionen erfolgen, ist nicht zuletzt marktgeleiteten Interessen privater Stiftungen geschuldet, die Hilfe in sogenannten Katastrophengebieten organisieren.

Krisen und Katastrophen werden aber nicht nur von den genannten Akteuren herbeigeredet, sie können sich auch gegenseitig bedingen. Notstände in einem Sektor können Ursache für Zuspitzungen in einem anderen sein. So entzieht etwa die Finanzkrise beharrlich Mittel aus dem Gesundheitssektor: Rund ein Drittel ihrer Krisenfachleute und Ebola-Experten verlor die Weltgesundheitsorganisation WHO seit 2009 mit der Konsequenz, dass die Gefahr der heutigen Seuche nicht nur falsch eingeschätzt wurde, sondern auch die Kompetenzen zur Eindämmung fehlen. Nachgeholt werden muss nun im Eilverfahren, was lange Zeit versäumt worden, aber in der akuten Situation kaum zu leisten ist: der Aufbau von Infrastruktur einerseits, ein immer nur langfristiger kultureller Wandel durch Gefahrenaufklärung der Bevölkerung vor Ort andererseits.

Wo bedrohliche Ereignisse immer öfter zu Katastrophen stilisiert werden und kein Ende der Krisen in Sicht ist, da verfliegt der Anschein, dass die zuständigen Akteure über ausreichend Reservekompetenz verfügen. Allein die Häufigkeit, mit der heute Ereignisse zu Katastrophen erklärt werden, deutet an, dass ihre Beendigung immer nur temporär sein kann. Mit jeder neu erklärten Katastrophe wird institutionelles Versagen deutlich und das Vertrauen darauf, dass Akteure angemessene Gegenmaßnahmen ergreifen können, schwindet.

Die Perpetuierung des Katastrophischen erweist sich als Zeichen einer institutionellen Krise, die wiederum mit Programmen verordneter Resilienz beantwortet wird: Die Bevölkerung soll in das Versagen von Staat und Institutionen eingebunden werden. Es gilt, den Einzelnen zu befähigen, für den Krisenfall vorbereitet zu sein und sich selbst helfen zu können, wo unter Umständen keine Organisation mehr helfen kann. An Vorsorge und Hilfsbereitschaft appellierend, wird Verantwortung nach unten auf den Bürger delegiert. Das klingt vielleicht nach Emanzipation, ist aber keine. Von Emanzipation ließe sich sprechen, wenn das selbstverantwortliche Handeln der Bürger nicht auf die Folgenbeseitigung der Katastrophen begrenzt bliebe.

Die Frage, welche Risiken und Wagnisse zu den Katastrophen geführt haben, bleibt jedoch allzu oft unbeantwortet. Die Finanzkrise gibt auch hierfür das Paradebeispiel ab: Risiken werden sozialisiert, ohne dass die Bevölkerung in die Lage versetzt würde, an der Diskussion um zukünftige Konsequenzen teilzuhaben. Gerade dies müsste aber durch das Krisenmanagement geleistet werden, das seine zweifellos notwendige Arbeit auf eine breite Basis in der Bevölkerung stellen sollte. Dieses Krisenmanagement verlangt Ursachenforschung jenseits der Mobilisierung von Ängsten, eine breite Aufklärung und Diskussion über das Für und Wider von Risiken. Und zwar bevor diese in Ereignisse umschlagen, die zur Katastrophe erklärt werden können.