Das Jahr Null

Das Ende des Zweiten Weltkriegs leitete eine neue Epoche ein. Der Historiker Ian Buruma legt ein bewegtes und persönliches Porträt des Jahres 1945 vor

Das Jahr 1945 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis Europas eingeschrieben. Selbst ein Vierteljahrhundert nach den Umbrüchen von 1989 sprechen wir immer noch von der „Nachkriegszeit“ und meinen damit nicht bloß eine kurze Phase von Unordnung, Not und Trümmer, sondern jene Zeit, die an unsere Gegenwart unmittelbar heranführt. In diesem Sinne nannte auch der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt seine große Geschichte Europas seit 1945 schlicht „Postwar“, weil sich mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands alles änderte – und angesichts bis dahin unvorstellbarer Gewalt und Leidens vieles besser wurde.

1945, das ist auch die entscheidende Zäsur in Eric Hobsbawms Sicht auf das europäische und globale 20. Jahrhundert als ein „Zeitalter der Extreme“. Gewalt und Glück, Elend und Überfluss lagen dichter zusammen als irgendwann sonst in der Geschichte, aber sie gaben auch den beiden Hälften des Jahrhunderts, diesseits und jenseits von 1945, ein unterschiedliches Gesicht. Es folgte eine Phase bis dahin ungekannter Sicherheit und Prosperität, auch wenn nicht alle Utopien sich erfüllten.

Aber wie war das Jahr 1945 selbst? Wie endete die Welt von Krieg und Gewalt, wie stellte sich Zivilisierung ein und wie erfuhren die Menschen diesen Übergang? Ian Burumas Biografie des Wendejahres entwirft ein kompliziertes und verwirrendes, ja verstörendes Bild. Obwohl der englische Originaltitel „Year Zero“ heißt, gab es jedenfalls keine „Stunde Null“, auch nicht im Sinne eines Tages wie des 8. Mai 1945, an dem sich Vorher und Nachher, Böse und Gut klar scheiden ließen.

Das Buch beginnt mit Glücksmomenten, mit der „Erotik der Befreiung“ nicht nur im metaphorischen Sinne. Aber Erfüllung und Erniedrigung lagen eng beieinander, wie die schonungslosen Darstellungen von Gewalt gegen Frauen zeigen. Männer schossen sich nieder und es war nicht leicht zu unterscheiden, ob das noch eine letzte Kriegshandlung oder ein erster Akt der „Wiedergutmachung“ war. Paradoxien des Todes auch im Konzentrationslager, wo ausgehungerte Häftlinge an einer plötzlichen Überdosis von Befreiernahrung starben. Die erste Hälfte des Buches ist keine leichte Lektüre, weil sie den Leser von einem Massaker ins nächste führt – nie voyeuristisch, aber auch nie verklausuliert.

Ian Buruma, Jahrgang 1951, mit niederländischem Vater und britischer Mutter, ist selbst ein Kind der Nachkriegszeit und gehört seit Langem zu den führenden liberalen Intellektuellen weltweit. Im englischsprachigen Raum kennt man ihn durch seine Essays und Rezensionen in der New York Review of Books, vielleicht mehr als wegen seiner eigenen Bücher, die häufig um das globale Verhältnis von West und Ost, Europa und Asien, Okzident und Orient kreisen. Seine souveräne Kenntnis der ostasiatischen, vor allem der japanischen, Geschichte und Kultur, verleiht auch dem neuen Buch einen besonderen Reiz; sie gibt den Ereignissen des Zäsurjahres 1945 eine ganz andere Schärfentiefe, als sie in Europa häufig immer noch anzutreffen ist.

Diesmal jedoch liegt der Akzent nicht so sehr auf den Brüchen zwischen Europa und Asien, auf dem Umgang mit kulturellen Differenzen – das Leitmotiv sind vielmehr die Ähnlichkeiten, die gemeinsamen Erfahrungen im Ausgang aus dem europäisch-atlantischen und asiatisch-pazifischen Zweiten Weltkrieg. Vertreibung, Zwangsmigration, Bevölkerungsverschiebung in zweistelliger Millionenzahl? Ähnlich viele „gestrandete“ Menschen mussten sich in Ost- und Südostasien um 1945 neu orientieren, eine neue Heimat finden oder in die alte, die nicht mehr war wie früher, zurückkehren. Überschießende Gewalt, rechte und linke Ideologien? Kein zweifelhaftes „Privileg“ Europas, aber auch nicht bloß von außen nach Japan oder China getragener kolonialistischer Import.

Zu den Displaced Persons zählte auch Ian Burumas Vater, der als junger Mann in Nijmegen von den deutschen Besatzern zur Zwangsarbeit in einer Berliner Fabrik rekrutiert wurde und auch sonst von den Schrecken der Vierzigerjahre kostete, aber Glück hatte und überlebte. Die Geschichte des Vaters bildet die Rahmenhandlung des Buches, das insofern autobiografisch genannt werden kann, als es ein Stück persönlicher Vergangenheitsbewältigung in der zweiten Generation beinhaltet. Vor dem Hintergrund der eigenen Familiengeschichte gewinnen die anderen Menschen, von denen Buruma berichtet, eine besondere Plastizität. Um eine ausgewogene, wissenschaftlich fundierte historische Darstellung handelt es sich nicht – keine Konkurrenz zu Tony Judt oder Eric Hobsbawm also.

Das Genre des Buches ist überhaupt nicht leicht zu definieren; irgendwo zwischen Essay, Sachbuch und Reportage; aber das macht seine Stärke aus, denn Buruma gehört weder zu denjenigen Gelehrten, die ihr Publikum in Gelehrsamkeit ertränken, noch zu denjenigen Essayisten, die auf Sachkenntnis glauben verzichten zu können.
Äußerlich gesehen, führt Ian Buruma seine Leser durch drei Teile mit den lakonischen Titeln „Befreiungskomplex“, „Trümmerbeseitigung“ und „Nie Wieder“, zu denen wiederum, schön symmetrisch, jeweils drei Kapitel gehören.

Eine chronologische Erzählung findet man nicht, auch wenn der Schwerpunkt von den ersten Monaten des Jahres 1945 an das Jahresende wandert und am Ende von den Silvesterhoffnungen an unterschiedlichen Plätzen der Welt die Rede ist. Eher wirft Buruma Schlaglichter auf das 1945-Syndrom, auf die Verwicklungen von Krieg und Frieden, Gewalt und Zivilität, Schuld und Sühne, Chaos und neuer Ordnung: am Beispiel von Juden, Displaced Persons, Partisanen und Kollaborateuren, Tätern und Opfern. Immer wieder wechseln, mit beeindruckender Leichtigkeit, die Schauplätze: von Frankreich nach Jugoslawien, von Großbritannien nach Deutschland, von Europa nach Japan, China, Korea, auf die Philippinen.

Immer wieder geht es um die Paradoxien, die Krieg, Gewaltherrschaft und Diktatur erzeugt haben; und die die Opfer häufig zum zweiten Mal zu Opfern werden ließen: etwa in den Niederlanden, deren Bevölkerung die jüdischen Überlebenden des eigenen Landes peinlich waren. So werden die klassischen Erzählungen der „Befreiung“ auf subtile Weise unterlaufen. Und doch bietet Buruma ein Narrativ des vorsichtigen Fortschritts an. Die Gewalt tritt in den Hintergrund, wird hier und da zivilisiert. Die Nürnberger Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher zeigen, dass Gerechtigkeit an die Stelle von Rache treten kann. In Menschen wie dem französischen Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel entdeckt der Autor einen „Idealismus, der aus dem Erlebnis der Zerstörung hervorgegangen war“. Das letzte Kapitel, „Eine Welt“ überschrieben, handelt von der Gründung der Vereinten Nationen.

Sollen wir daraus etwas lernen? In erster Linie lernen wir etwas über die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Erfahrungen im Wendejahr 1945. Eine „Moral von der Geschicht“ drängt uns Buruma nicht auf. Wenn es sie gäbe, wäre sie streckenweise eher deprimierend, denn in seinen Darstellungen der nicht enden wollenden Gewalt suggeriert der Autor eine geradezu anthropologische Unausweichlichkeit: Vergeltung wird zum Naturtrieb und „Blut fordert Blut“. Da wünschte man sich etwas mehr Aufmerksamkeit für die historischen Bedingungen exzessiver Gewalt, eines der wichtigsten Themen der globalen Forschung zum 20. Jahrhundert. Im nächsten Moment aber finden sich Spuren einer klassischen liberalen Sichtweise: Jedenfalls für Europa sind es vor allem die USA und Großbritannien, die den Teufelskreis von Gewalt und Vergeltung durchbrechen, auch wenn sie im eigenen Land oder in ihren Kolonien noch anders handeln.

Und noch eine Schwebelage ist für dieses Buch charakteristisch: Am Ende wissen wir nicht, ob 1945 weit entfernt oder erschreckend nah ist. Buruma ruft Ereignisse und Konstellationen in Erinnerung, die fremd geworden sind, als ob er sie vor dem endgültigen Vergessen bewahren möchte. Oder steckt darin doch eine Lektion für unsere eigene gewalthafte Zeit? Als die Vereinten Nationen sich im Frühjahr 1945 hoffnungsvoll als neue Macht des ewigen Friedens konstituierten, stand gleich eine Krise in Syrien auf der Tagesordnung. So nah und so fern ist 1945 und so nachdenklich macht dieses Buch.

’45. Die Welt am Wendepunkt. Von Ian Buruma.  Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Carl Hanser Verlag, München, 2014.

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