Wo bin ich?

Europaweit regeln genaue Vorschriften das Design von Verkehrsschildern. Warum es in Frankreich trotzdem anders aussieht als in Deutschland oder Irland

Fährt man mit dem Auto über die Grenze, stellt der Reisende plötzlich fest, dass „etwas“ anders aussieht. Die Verkehrsbeschilderung zeigt ein anderes Format, die Schrift ist eine andere. Selbst wenn man keine typografischen Kenntnisse hat, fällt dem Autofahrer auf, dass sich das visuelle Bild des öffentlichen Raumes verändert hat. Das Schriftbild ändert sich von Land zu Land wie die Sprache. Der Grenzgänger wird unbewusst wahrnehmen, dass er nicht mehr in Deutschland, sondern in Frankreich ist. Die unterschwellige Wahrnehmung erfasst, dass die „typisch deutsche“ DIN-Schrift hinter der Grenze einer eleganten, schmallaufenden Versalschrift weicht.

In Europa finden wir trotz europaweiter Vorgaben für das Design von Verkehrszeichen viel Spielraum in der Umsetzung. Die Beispiele für unterschiedliche Stop-Schilder zeigen, dass sich jede Nation eine individuelle Freiheit in der Gestaltung herausnimmt. Das Wort ist immer in weiß auf rotem Grund gesetzt. Merkt doch kein Mensch, wenn wir da eine andere Schrift nehmen. Es ist der sympathische Ungehorsam gegen Normen und Vorschriften beim gleichzeitigen Versuch, eine nationale Identität zu behaupten. Selbst in den – nur für Fachleute sichtbaren – kleinen Details wie in der Wahl einer Schrift. Subversive Typografie!

Die Länder haben sich in der Vergangenheit bei der Gestaltung von Beschilderungssystemen an Vorbildern orientiert: Griechenland (Verkehrsschilder) und Italien (Autokennzeichen) haben die deutsche DIN übernommen. Der Schnitt der italienischen Schrift ist gegenüber dem Original etwas leichter. Ein anderes Vorbild sind die amerikanischen Standard Alphabets for Traffic Control Devices der Federal Highway Administration (FHWA), sie werden von Spanien und von angelsächsisch geprägten Ländern wie Kanada und Australien – hier in einer veränderten Form – verwandt.

Typografische Zusammenhänge mit politischen Aspekten zu verbinden ist ein gewagtes, aber reizvolles Gedankenspiel. Schilder werden zu einer bestimmten Zeit entworfen und spiegeln sehr wohl den Zeitgeist. Politische und gesellschaftliche Umwälzungen zeigen sich auf scheinbar unbedeutenden Alltagsgegenständen wie Autokennzeichen. Die italien­ischen verwenden in den 1920er-Jahren – „fanno bella figura!“ – eine zeitgemäße Schrift, deren Konstruktion auf einem Rechteck liegt. Diese wird 1932 durch eine altertümliche Serifenschrift ausgetauscht. Dass Antiquaschriften ein antiquiertes Weltbild beschreiben, ist natürlich Unsinn und nicht zwingend, aber in diesem Fall möglicherweise richtig. So ist es dann auch logisch, dass nach dem törichten Duce wieder „dolce tipografia“ herrscht: Ab 1952 ziert eine serifenlose, sachlich-aufgeklärte Schrift die „belle macchine“, entworfen von Pininfarina, Bertone und Zagato.

Besonders bei kleineren Ländern stellt man immer wieder fest, wie sehr Schrift und Identität verzahnt sind. Vielleicht ist es der Wille zur Unterscheidung von übermächtigen Nachbarn und alles beherrschenden Sprachen. Luxemburg hat eine eigene Sprache und zeigt diese auf den Schildern. Aber nicht nur das. Für Lëtzebuergesch gibt es eine eigene Schrift und in Irland für Gälisch einen eigenen Schriftschnitt. Diese Vielfalt in Europa ist besonders reizvoll. In Island wird die dort verwandte Schrift „Transport Heavy“ um die Sonderzeichen Eth und Thorn erweitert, die im ursprünglichen Schriftsatz nicht vorhanden waren.

Diese Beispiele zeigen, dass das Bedürfnis nach Unterscheidung, Identität und regionaler Eigenständigkeit so groß ist, dass es sich in – scheinbar unbedeutenden – Straßenschildern niederschlägt. Der große einheitliche Mantel schützt vor Verwirrung und hilft, sich schnell in unterschiedlichen Ländern zu orientieren. Die eigentümlichen Details aus Sonderzeichen, Dialekten, illustrierender Sprache und sprechender Illustration helfen ebenso dabei festzustellen: Wo bin ich?