Wird schon wieder
Die Finanzkrise wurde in der öffentlichen Diskussion verharmlost. Über die sprachliche Bewältigung von Ausnahmesituationen
„Alle Experten sind sich darüber einig, dass die schwächelnde Wirtschaft keinen Anlass gibt, in Panik auszubrechen (...) Es wird wie immer sein (...) der Immobilienmarkt schafft das.“ Diese Aussagen des amerikanischen Finanzexperten Ike Mathur waren 2008 in einem Onlineartikel zu lesen. Als in den USA die Immobilienblase platzte und daraufhin das internationale Bankensystems im Herbst 2008 zusammenbrach, waren Vertreter aus Politik und Wirtschaft schnell mit öffentlichen Erklärungen zur Stelle. Allerdings nahmen sie die offensichtlichen Schwachstellen der ungeregelten Finanzmärkte nicht zum Anlass, deren Funktionsweise zu hinterfragen. Im Gegenteil: Ihre Stellungnahmen zielten eher darauf ab, die Ideologie des freien Marktes zu verteidigen.
Ich möchte hier den damals dominierenden Diskurs anhand von Daten aus Zeitungen, Magazinen und anderen Veröffentlichungen analysieren. Dabei lassen sich vier aufeinanderfolgende Phasen der sprachlichen Konstruktion und Bewältigung der Ereignisse feststellen. Erstens: zu leugnen, dass überhaupt eine Wirtschaftskrise im Gange ist. Zweitens: zu akzeptieren, dass man sich in der Rezession befindet und dass die Selbstregulierung der Märkte versagt hat. Drittens: staatliche Maßnahmen zu fordern und zu verabschieden, mit denen man die Krise unter Kontrolle bringen will. Viertens: auch nach der Konfrontation mit der Krise an der Ideologie der freien Märkte festzuhalten.
Die theoretischen Grundlagen, auf die sich meine Beobachtungen stützen, sind den Arbeiten des argentinischen Politiktheoretikers Ernesto Laclau und des amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn entnommen. Laut Laclau ist die Geschichte – und hier vor allem die Geschichte der menschlichen Gesellschaftssysteme – ein Wechselspiel von Konstruktion und Dislokation (Verlagerung). Idealerweise läuft das Spiel folgendermaßen ab: Konstruktion – Dislokation – Neukonstruktion (Rekonstruktion) und so weiter. Auch wenn Dislokationen eine grundlegende Negativität innewohnt, beinhalten sie immer auch ein produktives Element. Einerseits bedrohen sie bestehende Identitäten, Ideologien und Diskurse, andererseits jedoch erzeugen Dislokationen Lücken, aus denen die Erwartung einer Neukonstruktion dieser verlagerten Ideologien und Diskurse erwächst, um die entstandene Leerstelle wieder zu füllen.
Die entscheidende Voraussetzung für die Dislokation eines hegemonialen Diskurses ist, dass ein unerwartetes Ereignis oder eine Krise eintritt. Alle Ereignisse, die wir nicht mit unserem Denken erfasst haben, können zu neuen Konstruktionen, neuen Interpretationen und Verhaltensweisen führen. Aber dies allein genügt nicht. Nicht alle Ereignisse, selbst die von entscheidender Bedeutung, führen notwendigerweise Veränderungen herbei. Ereignisse können somit auf der Grundlage bereits bestehender Diskurse von den sozialen Akteuren eingeordnet und interpretiert oder auch ignoriert werden. Oder aber sie führen zu neuen Konstruktionen.
Laclau ist nicht der Einzige, der sich an einer Theorie der Dialektik zwischen Konstruktion und Dislokation versucht hat. Bestandteile derselben Überlegungen finden sich auch in Thomas Kuhns Klassiker der Erkenntnistheorie „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ von 1962. Kuhn stellt den logischen Empirismus infrage und sieht wissenschaftliche Theorien als komplexe historische Phänomene, die sich aus folgenden Phasen zusammensetzen: Paradigma (Normalwissenschaft) – Anomalien – Krise – wissenschaftliche Revolution – neues Paradigma und so weiter. Die Parallelen zu Laclaus historischem Schema sind augenfällig.
Sowohl für Laclau als auch für Kuhn ist der Zerfall einer Konstruktion immer auch produktiv. Um mit Kuhn zu sprechen, der Paradigmenwechsel ist „destruktiv-konstruktiver“ Natur. Die treibende Kraft in der Aufei-nanderfolge der Paradigmen ist die Dislokation, die in Kuhns Modell in Form von Anomalien auftritt, welche die Hegemonie eines Paradigmas beeinträchtigen wie auch die darauffolgende Krise, die zum Zerfall führt. Die Dislokation und die daraus resultierende Krise eines Paradigmas führen zur Bildung eines neuen, veränderten Paradigmas. Laut Kuhn führen die Anomalien allein noch nicht dazu, dass ein Paradigma aufgegeben wird. Es verliert seine Gültigkeit nur, wenn ein alternatives Paradigma vorhanden ist, welches das vorige ersetzen kann. Somit entsteht nach der „Dislokation“ oder „Krise“ ein antagonistischer Raum alternativer Konstruktionen (oder Paradigmen), der die Lücke, den durch die vorherige Dislokation entstandenen Mangel, füllt. Kuhn (wie auch Laclau) schlägt drei Möglichkeiten zur Lösung der Krise vor: die Manipulation des Problems durch die Normalwissenschaft, seine Marginalisierung oder das Auftreten eines neuen Paradigmas.
Mein zentrales Argument ist, dass es sich bei den sich ablösenden Narrativen über die Wirtschaftskrise um Ad-hoc-Konstruktionen handelt, deren Ziel es ist, die Hegemonie des herrschenden Paradigmas zu erhalten, und das trotz der Anomalien und Dislokationen, um mit Kuhn beziehungsweise Laclau zu sprechen. Anders gesagt scheint die gegenwärtige Krise das Paradigma des freien, sich selbst regulierenden Marktes nicht zu schwächen, sie scheint eher eine Anomalie zu sein, die in den Markt eingebunden wird und somit den Übergang in ein neues Paradigma verhindert. Bevor ich untersuche, ob sich diese Annahme beweisen lässt, möchte ich die jeweiligen Etappen herausarbeiten, in denen sich der Diskurs der Krise äußert.
Im ersten Stadium, in dem der Diskurs der Krise seinen Ursprung findet, wird die Möglichkeit, dass die scheinbar plötzlich ausgebrochene Krise des Jahres 2008 in eine Rezession mündet, schlicht geleugnet. Man könnte auch sagen, dass der Diskurs sich voll und ganz in den Kontext der bereits bestehenden dominanten Sprache einfügt. Die Befürworter des Wirtschaftsliberalismus lassen noch nicht einmal gelten, dass es sich um ein Ereignis – eine Krise – handelt, das die Hegemonie des Paradigmas bedroht. Zunächst einmal – bevor die Banken das gesamte Ausmaß der „faulen“ Kredite erkannten – versuchten sie das Problem zu verschleiern und herunterzuspielen. Zahlreiche Journalisten, Berichterstatter und Wirtschaftsexperten beeilten sich, die Investoren zu beschwichtigen, indem sie Debatten über eine Rezession einfach anfochten.
„Die Krise des letzten Monats unterscheidet sich in keiner Weise von den Krisen der letzten Jahre, auch sie wird den permanenten Fortschritt der globalisierten Finanzwelt nicht aufhalten. Die ökonomische Logik der wirtschaftlichen Globalisierung hat ihre Überzeugungskraft nicht verloren.“ „Die Krise ist unter Kontrolle, die Käufer sollten sich nicht weiter beunruhigen.“ Dies sind nur einige Kommentare, die in den Print- und Onlinemedien zu lesen waren. Die Beschwörungsformeln angesehener Experten waren die wichtigsten Hilfsmittel, die von Vertretern der dominierenden Ideologie genutzt wurden, um zunächst einmal die schwächelnde Wirtschaftslage zu rechtfertigen. Als die Krise mit all ihren Konsequenzen dann nicht mehr von der Hand zu weisen war – ein außergewöhnliches Ereignis war in Kraft getreten, das nicht mehr nur anhand bestehender Diskurse erklärt werden konnte –, setzte eine Dislokation des hegemonialen Diskurses ein. Die zwei folgenden Phasen beschreiben und analysieren die Anomalien, die aufgetreten sind und die die Hegemonie des Paradigmas geschwächt haben.
Im zweiten Stadium akzeptieren auch die Verteidiger des freien Marktes plötzlich dessen Versagen. Besonders bemerkenswert an diesem Übergang ist, dass gerade die Befürworter des theoretischen Konstrukts der Selbstregulierung der Finanzmärkte dieses nun niederreißen. Die Aussage des neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlers Alan Greenspan, des ehemaligen Vorsitzenden der US-Notenbank, vor dem Kongressausschuss ist hierfür ein typisches Beispiel: „Ich habe einen Fehler in einem System gefunden, das ich für eine funktionstüchtige Konstruktion hielt, die den Lauf der Welt bestimmt“.
In der Tat hat sich die Idee, dass die Märkte sich selbst regulieren und von Natur aus eine Stabilität anstreben, verlagert. Damit war auch die Vorstellung nicht mehr haltbar, dass die Märkte allein durch innere Faktoren nicht so aus dem Gleichgewicht zu bringen seien, dass eine Krise entstünde. Auch der Finanzmogul und Geschäftsmann George Soros stellte die Grundidee der modernen Ökonomie infrage: „Was die gegenwärtige Krise auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie nicht durch einen externen Schock hervorgerufen wurde ... Die Krise wurde von dem Finanzsystem selbst erzeugt.“ Dieser Sachverhalt – dass die Fehler dem System innewohnen – widerspricht der bis dato vorherrschenden Theorie, dass die Finanzmärkte ein Gleichgewicht anstreben und dass Schwankungen eher zufällig entstehen oder durch ein plötzlich auftretendes externes Ereignis hervorgerufen werden, dem sich die Märkte nur mit Mühe anpassen können. Um „die Geschehnisse zu verstehen“, bedarf es laut Soros „eines neuen Paradigmas. Das gegenwärtig geltende Paradigma – die Finanzmärkte streben ein Gleichgewicht an – ist falsch und irreführend. Die momentanen Schwierigkeiten lassen sich vor allem darauf zurückführen, dass sich das globalisierte Bankensystem aus diesem Paradigma heraus entwickelt hat.“ Demzufolge hat die Finanzkrise die Grundlagen einer Ideologie des freien Marktes ins Wanken gebracht und die Idee der natürlichen Selbstregulierung der Märkte aus sich selbst heraus verlagert.
Die dritte Phase der sprachlichen Bewältigung der Krise beinhaltet vor allem die Einführung staatlicher Maßnahmen, die darauf abzielen, die Marktmechanismen zu regulieren und zu kontrollieren. Die Gewissheit sich selbst regulierender, ein Gleichgewicht anstrebender Märkte verlagert sich, eine Dislokation findet statt, um mit Laclau zu sprechen. Nun wird die Idee eines Eingriffs seitens des Staates infrage gestellt, da dieser das Finanzsystem aus dem Gleichgewicht bringen und in unerwünschte Bahnen lenken könnte. Als die ersten Diskussionen aufkamen, wie die Krise zu lösen sei, wurde häufig vorgeschlagen, einfach nichts zu tun und die „Märkte sich selbst regulieren zu lassen“. Aber schon bald wurde das genaue Gegenteil gefordert.
Um das Katastrophenszenario einer neuen „Großen Depression“ zu verhindern, solle der Staat – der nach der Ideologie des Wirtschaftsliberalismus nicht nur nicht in der Lage ist, die Märkte zu regulieren, sondern ihnen dadurch auch noch Schaden zufügen würde – die Kontrolle übernehmen. In den letzten zwei Jahren haben die Regierungen zahlreicher Staaten die größten finanziellen und steuerlichen Unterstützungen in der Geschichte aufgebracht, um die Weltwirtschaft vor der schlimmsten Krise der letzten achtzig Jahre zu retten. Die Politik staatlicher Eingriffe wird von der Mehrheit der Menschen heute als einzig mögliche Lösung angesehen. Dabei konzentriert man sich jedoch auf die Rettung der Banken, während Beschäftigungsmaßnahmen, Löhne und Renten meist außer Acht gelassen werden.
Die vierte und letzte Phase der sprachlichen Bewältigung der Finanzkrise war dadurch charakterisiert, dass gewisse Politiker und Wirtschaftswissenschaftler an der Ideologie des freien Marktes festhielten, obwohl der Staat längst vielfach regulierend eingegriffen und diese Eingriffe schon erste Erfolge gezeigt hatten. Dies ist ein besonders interessanter Punkt. Wie bereits erwähnt entsteht in einer solchen Situation, die Laclau mit dem Begriff Dislokation und Kuhn mit dem Begriff Krise bezeichnen würde, ein hegemoniales Spiel, das zu drei möglichen Ergebnissen führen kann. Die Ereignisse können entweder eingebunden und durch bereits vorhandene Diskurse erklärt werden, von den sozialen Akteuren ignoriert werden oder einen gesellschaftlichen Wechsel herbeiführen und somit ein neues Paradigma schaffen. In dem von mir untersuchten Fall der sprachlichen Bewältigung der Finanzkrise scheint sich die Integration des Ereignisses in bereits bestehende Diskurse durchzusetzen. Der Wirtschaftswissenschaftler Alan Greenspan beispielsweise sieht zwar die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen, fügt aber gleichzeitig hinzu: „Es ist wichtig, ja sogar entscheidend, dass alle Reformen und Regulierungen der Struktur des Marktes und seiner Regeln unseren verlässlichsten und wirksamsten Schutz vor einer zunehmenden Schwächung der Wirtschaft nicht beeinträchtigen: die Flexibilität der Märkte und den freien Wettbewerb.“ Spitzenpolitiker aus den USA und Großbritannien stellten auch klar, dass jegliche Verstaatlichung der Banken oder anderer Institutionen nur vorübergehend sei. Die momentan vollzogenen Verstaatlichungen würden so lange andauern, bis das Ziel der „Instandsetzung und Reformierung unseres Finanzsystems abgeschlossen ist und unsere Wirtschaft somit wieder prosperieren kann“, verkündete Notenbankchef Ben Bernanke.
Diese letzte Phase schließt einen Zyklus, der mit derselben Prämisse beginnt und endet: einem Leugnen der Krise (erstes Stadium) und dem Glauben, dass das System des freien Marktes nach dem Wirtschaftsaufschwung wieder in Betrieb genommen werden sollte (viertes Stadium). Trotz seiner offensichtlichen Mängel scheint das System des freien, sich selbst regulierenden Marktes nicht zum Scheitern verurteilt. Im Gegenteil, es strebt danach, als einzig bestehendes System, das Wirtschaftswachstum und Produktivität sicherstellt, erneut zu dominieren. In den Diskursen zur Wirtschaftskrise zeichnet sich eine Entwicklung ab, die mit der Artikulation des ökonomischen Neoliberalismus einsetzt und über eine Dislokation zu einer Restauration der bereits existierenden Artikulation führt. Das Paradigma scheint die Anomalien zu integrieren, ihren Widerstand zu neutralisieren. Es ist offenbar einem schrittweisen Wandel unterworfen, der die Reproduktion der Konditionen seiner Hegemonie in keiner Weise beeinträchtigt. Die Ideologie des freien Marktes scheint damit sowohl die Krise an sich als auch die staatlichen Eingriffe erfolgreich zu meistern, indem sie bei einigen Themen einlenkt und dann wieder zur üblichen Tagesordnung übergeht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Krise noch nicht vorbei ist. Wir können heute nicht vorhersagen, in welchem Zustand sich die Weltwirtschaft nach der Krise befinden wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich aus einem Diskurs, der mit der Ideologie des freien Marktes konkurriert, eine neue Sprache entwickeln wird oder ob sich das Paradigma letztendlich behaupten kann.
Aus dem Englischen von Henrike Rohrlack
Der vorliegende Text ist die bearbeitete Fassung eines Aufsatzes, der zuerst in der griechischen Zeitschrift Intellectum erschien (www.intellectum.org).