Vom Zwang, fit zu sein
Athletische Körper werden heute mehr denn je zum Vorbild erhoben. Warum eigentlich?
Bilder vom idealen Körper sind in der heutigen westlichen Kultur allgegenwärtig. Fit, gesund und schlank zu sein ist zu einer Bürgerpflicht geworden. Ein „guter“ Körper bedeutet gesellschaftliches Kapital. Er bringt einen weiter als ein Körper, der Faulheit oder Mangel an Disziplin ausstrahlt. Fit und schön zu sein wird zu einer zwingenden Anforderung, die an den modernen Menschen gestellt wird.
Dieser Zwang ist nicht ganz neu. Von jeher haben körperliche Erziehung und Sport im Dienst verschiedener Ideale gestanden, angefangen bei Zucht, Keuschheit und Vaterlandsliebe bis zu Widerstandsfähigkeit und Arbeitsproduktivität des Volkes. In der Rhetorik der frühen „Körpererzieher“ dient die Ertüchtigung des Körpers als Mittel zur moralischen und nationalen Bildung. Bereits bei Turnvater (Ludwig) Jahn standen Gymnastik und Turnen im 19. Jahrhundert im Dienst patriotischer Ideale des deutschen Volkes.
Obwohl Sportorganisationen, die Anzahl der Sporttreibenden und die verschiedenen Disziplinen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Entwicklung durchlaufen haben, verzeichnet die Legitimation von Sport und Gymnastik eine auffallende historische Kontinuität. Die Legitimationen kreisen dabei stets um zwei Typen von Rechtfertigungen: die Wichtigkeit des „gesunden“ Staates und die des gesunden, gut geformten Körpers. Inzwischen sieht die Politik im modernen Sport ein ideales Instrument, um Gesundheit, soziale Integration und den Nationalstolz der Bürger zu fördern. Das Ideal des „gesunden Staats“ geht Hand in Hand mit dem einer „gesunden Gemeinschaft“, des „gesunden Bürgers“ und des „gesunden Körpers“.
Heute jedoch ist der Zwang fit und gesund zu sein allgegenwärtig und in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet. Angespornt durch die Obrigkeit und Gesundheitsexperten zwingen sich Menschen auf alle mögliche Art und Weise zu mehr Körperbewegung. Die Zunahme von Sporttreibenden ist jedoch nicht dem Phänomen gewachsen, das gerne auch als „Epidemie der Fettleibigkeit“ umschrieben wird. In allen modernen Wohlfahrtsstaaten ist eine Schlankheitskultur entstanden, in der Männer und Frauen über eine Mischung aus Gesundheitsvorschriften, Schuldgefühlen und ästhetischen Idealbildern angespornt werden schlank zu bleiben.
Dickleibigkeit wird als ein Mangel an Selbstbeherrschung interpretiert und ist als solcher moralisch verwerflich. Das verbreitete Schlankheitsgebot ist eine typisch westliche Form von Zwang zur Selbstkontrolle. Kinder lernen schon in jungem Alter, dass der Besitz und das Bewahren der richtigen Körperformen gesellschaftliches Kapital darstellen. Immer früher werden sie verglichen, gemessen und kontrolliert, zum Beispiel indem man ihren sogenannten Body-Mass-Index ermittelt. Fünfjährige Kinder zeigen bereits deutliche – und angelernte – Vorlieben für mesomorphe, also eher muskulöse Körperbautypen gegenüber ektomorphen und endomorphen, sehr dünnen und dicklichen. Untersuchungen zeigen auch, dass viele junge Kinder unnötigerweise versuchen abzunehmen. In Holland zum Beispiel halten sich beinahe dreißig Prozent der Mädchen für zu dick.
Bei der Suche nach dem gesunden und schönen Körper fungiert der durch Spitzensport geformte Körper immer häufiger als leuchtendes Vorbild. Die Kluft zwischen dem Körper eines Spitzensportlers und dem eines „normal konsumierenden“ Körpers wächst jedoch und damit werden auch die disziplinierenden Maßregeln verstärkt, um den Lebensstil von Menschen nach Möglichkeit zu kontrollieren und zu korrigieren. Dies wirft die Frage auf, inwiefern der Spitzensport Ideale verbreitet, die von oben gefördert und propagiert werden müssten. Der Spitzensport lehrt uns nicht nur, wie ein Körper trainiert und diszipliniert werden kann, sondern bietet auch einen einmaligen Einblick in die Grenzen des Kontrollierens und Bestrafens, zum Beispiel wenn der Körper „beschmutzt“ wird durch körperfremde Stoffe, etwa beim Doping.
Mit dem Argument, einen ehrlichen Wettstreit sicherstellen zu wollen, werden Spitzensportlern immer strengere Regeln auferlegt – mit weitreichenden Folgen. Der Anti-Doping-Code legt fest, dass ein Spitzensportler viele Dinge nicht einnehmen darf, die dem normalen Bürger sehr wohl erlaubt sind. Die „Whereabouts“-Regel impliziert, dass Spitzensportler jederzeit angeben müssen, wo sie sich befinden, und jederzeit für eine Stunde zur Dopingkontrolle zur Verfügung stehen müssen. Kürzlich untersuchte die Europäische Union eine mögliche Verletzung der Rechte von Athleten, insbesondere des Rechts auf Privatsphäre. Offenbar sind viele Athleten bereit, ihre Privatsphäre aufzugeben, wenn es der Dopinguntersuchung zugutekommt. Mehr noch, eine kürzlich durchgeführte Studie unter niederländischen Athleten ergab, dass fast 60 Prozent der Sportler bereit sind, im Zusammenhang mit Doping-Untersuchungen eine DNA-Probe abzugeben. Fast 20 Prozent der Athleten sind sogar einverstanden, ein Band am Arm oder am Fußgelenk zu tragen oder sich einen Chip implantieren zu lassen, um eine permanente Kontrolle des Aufenthaltsortes zu gewährleisten.
Warum diese extreme Kontrolle und vehemente Forderung nach „sauberen“ Leistungen? Anti-Doping-Institute wie die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) können unmöglich weltweit für alle Sportler eine klare und gerechtfertigte Grenze zwischen dem „sauberen“ und dem „beschmutzten“ Körper ziehen. Die WADA ist inzwischen selbst Teil der PR-Maschinerie des Spitzensports geworden, um das Ideal des ehrlichen und sauberen Sports hochzuhalten. Die Aufregung um gefallene Helden wie Lance Armstrong hat vor allem abschreckende Funktion und begründet die Existenz der Anti-Doping-Institutionen.
Die Ideale in Bezug auf den fitten und reinen Körper hingen stets mit Idealen des gesunden und vitalen Staates zusammen. Immer expliziter werden die Investitionen in den Spitzensport mit Nationalstolz in Verbindung gebracht. Der Gedanke, dass Sport als Mittel dienen kann, um unseren Nationalstolz und unseren internationalen Ruf aufzupolieren, gründet auf der Annahme, dass sich solche Gefühle von oben steuern lassen. Das Anwachsen öffentlicher Mittel für den Spitzensport spiegelt die Überzeugung wider, dass Erfolg machbar ist und dieser Erfolg instrumentalisierbar. Auch hier handelt es sich um eine hartnäckige Ideologie. Es gibt nämlich keinerlei Anzeichen dafür, dass Erfolge im Spitzensport Gefühle von nationalem Stolz dauerhaft beeinflussen oder sich positiv auf das Bewegungsverhalten von Menschen auswirken. Für die Dauer eines Wettkampfes oder eines Sportereignisses wie die Olympischen Spiele lässt sich eine leichte Zunahme an Stolz verzeichnen, vor allem bei Menschen, die dieses Ereignis verfolgen. Dauer und Umfang der Wirkung sind jedoch begrenzt. Sport ist eher ein Ventil als ein Antrieb für nationale Gefühle.
Sport ist für viele Kinder und Erwachsene eine gesunde Leidenschaft. Zweifellos spielt dabei das Verhältnis zu sportlichen Helden und Bildern vom idealen Körper eine wichtige Rolle. Dieses Verhältnis ist jedoch diffus und zweideutig. Spitzensport ist eine globale Milliardenindustrie, in der es in zunehmendem Maße um unkritisches Folgen und blinden Glauben an die instrumentellen Werte von Spitzensport geht. Nur selten wird hinterfragt, wie wünschenswert der Körper eines hoch trainierten Spitzensportlers als Vorbild für den „gesunden Bürger“ und den „gesunden Staat“ eigentlich ist.
Aus dem Niederländischen von Annalena Heber