Verlorene Träume

Der Romancier Rafael Chirbes hat einen Roman zur Krise in Spanien geschrieben

„Der große Roman zur Krise“, jubelte die spanische Presse einhellig, als im Frühjahr 2013 Rafael Chirbes’ „En la orilla“ erschien. Welche Erleichterung, dass der führende literarische Chronist des Landes sich des Ungetüms angenommen hatte. Welch ein Trost, dass es ihm gelungen war, dem lähmenden Elend, das eine ganze Gesellschaft befallen hatte, eine Stimme – oder vielmehr ein Chirbes-typisches Stimmengewirr – zu verleihen. Wenn alles zusammenbricht, was in den letzten Jahren strahlend emporgeschossen ist, kann man ja froh sein, wenn man noch irgendwo Halt am Bewährten findet. Und Chirbes war mehr als bewährt, er hatte gerade die höchste Popularitätsstufe für einen Schriftsteller in Spanien erreicht: Aus seinem vorigen Roman „Krematorium“ war eine erfolgreiche Fernsehserie gemacht worden, sodass, wie El País schrieb, nun auch die Nachbarn aus seinem Dorf Chirbes als Autor entdeckt hatten.

Nachdem sich „Krematorium“ mit der Immobilienblase auseinandersetzte, widmet sich „Am Ufer“, wie der Roman auf Deutsch heißt, den Verheerungen nach dem Platzen der Blase. Die Handlung: Der 70-jährige Esteban, der in einem Dorf nahe der fiktiven valencianischen Küstenstadt Misent eine Schreinerei betreibt, hat sich von einem Bauspekulanten überreden lassen, in dessen Geschäfte einzusteigen, und ist nun ruiniert. Seine Mitarbeiter musste er entlassen, auch die Kolumbianerin Liliana, die ihm mit der Pflege seines uralten Vaters half, kann er nicht mehr bezahlen. Er macht sich bereit, seinem Leben (und vorher noch dem des Vaters) im weitläufigen Sumpfgebiet hinter dem Dorf ein Ende zu setzen. Wir dürfen davon ausgehen, dass ihm dies gelingt, denn im Prolog stößt einer der entlassenen Gehilfen in dem Sumpf auf Leichenteile. Nicht viel Plot für einen Roman von 430 Seiten, aber darum geht es auch nicht. Das Schicksal des Schreiners dient als Aufhänger für eine Polyfonie der zerstörten Lebensentwürfe.

Aus der Distanz überzeugt der „große Roman zur Krise“ allerdings weniger, als die spanischen Kritiker befanden. Vor allem die ersten hundert Seiten sind kaum mehr als mit dürren Erzählzutaten angereicherte Sozialreportagen und historische Abrisse, von Esteban und seinen ungelernten Mitarbeitern in ausgiebigen inneren Monologen dargeboten, die wie Leitartikel klingen. Ab dem zweiten Drittel gewinnt die Literatur zwar die Überhand, doch die Virtuosität, mit der Chirbes in Romanen wie „Der lange Marsch“ oder „Der Fall von Madrid“ Zeitgeschichte in so vielschichtige wie mitreißende Prosa goss, flackert nur selten auf. Stattdessen geraten Estebans Selbstgespräche, aber auch der gesellschaftsanalytische Austausch mit seinen Kartenkumpeln in der Dorfkneipe zunehmend geschwätzig und zotig. Die Krisenlähmung greift auf den Text über. Darin mag man einen Kunstgriff des Autors sehen, doch es ist ein Kunstgriff, der ermüdet. Die „unendliche Empathie“ mit den Figuren, die Chirbes’ hiesige Verlegerin Antje Kunstmann preist, bedeutet vor allem, dass die Figuren sich endlos um Kopf und Kragen reden. Und was der Erzählschwall im Original noch an Sogwirkung ausüben kann, geht in Dagmar Ploetz’ diesmal ungewohnt blasser, vielleicht zu eilig entstandener Übersetzung verloren. Übrig bleiben ein paar goldene Worte und schmerzhaft genaue Bilder zum Herausfischen. Etwa: „Wenn Geld zu etwas nütze ist, dann dazu, deinen Nachkommen Unschuld zu erwerben.“ Oder, als Zeichen der Zeit, „die unbewegten Kräne über dem halb fertigen Wohnblock […]: ein Scherenschnitt am Himmel und daran schaukelnd die Schubkarre, wie ein Selbstmörder an seinem Strick.“

Die Riesenmetapher im Zentrum von „Am Ufer“ ist der Marjal, das Sumpflabyrinth – das faulige Gegenstück zum Meer, für die Dorfbewohner Hassort und Rückzugsraum zugleich, zudem Jagdrevier und Sickergrube, um Unerwünschtes verschwinden zu lassen, ob Müll, Waffen oder Leichen. Der Sumpf wird nicht nur Esteban zum Schicksal, er ist Sinnbild für das ganze Land: als Sumpf der verdrängten Geschichte (wie immer bei Chirbes sind auch der Bürgerkrieg und die Frühzeit der Franco-Diktatur ein großes Thema) und als Sumpf der kollektiven Selbsttäuschung, aus dem die Boomblase erwachsen konnte.

Am Schluss scheint sich der Autor darauf zu besinnen, dass in seinem Panorama einer tief erschütterten Gesellschaft die Migranten zu kurz gekommen sind. Darum muss Liliana, Estebans kolumbianische Haushälterin, noch schnell ein paar gängige Klischees abreiten. Natürlich hat sie sich prostituiert, um ihr Kind und ihren Mann auch herholen zu können, natürlich erweist sich dieser Mann dann als faul, versoffen und gewalttätig und bringt es fertig, aus ungerechter Wut auf Liliana einen Hundewelpen zu erwürgen. So versinkt „Am Ufer“ letztlich im Sumpf des Unausgegorenen. Vielleicht geht es nicht anders. Vielleicht muss sich das Ausmaß der Krise in Spanien auch darin zeigen, dass vorerst nicht einmal ein so großer Romancier wie Rafael Chirbes ihr gewachsen ist.

Am Ufer. Von Rafael Chirbes. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann, München, 2014.