Tour d'Eritrea
Die Radsportchampions der Zukunft kommen aus einem kleinen afrikanischen Land
Eritrea ist vielleicht das radsportverrückteste Land der Welt. Unmöglich, denken Sie? Gebührt dieser Titel nicht eher Frankreich, wo seit 1903 das berühmteste Radrennen der Welt stattfindet? Oder den Niederlanden, wo über dreißig Prozent der Einwohner auf zwei Rädern zur Arbeit fahren?
Aber Eritrea, dieses kleine dreieckige Landstück am Roten Meer, ist der einzige Staat der Erde, in dem Straßenradrennen Nationalsport ist. Jede Woche werden dort anspruchsvolle Rennen veranstaltet. Die Zuschauer bezahlen dafür Eintritt und die größeren Teams werden von begeisterten Fanclubs unterstützt. Die Tour de France läuft jedes Jahr live im Fernsehen. Und obwohl Eritrea nur fünf Millionen Einwohner hat, gibt es etwa 200 Profiradfahrer, die wohl zu den besten Afrikas zählen. Daniel Teklehaimanot zum Beispiel fuhr 2012 als erster schwarzer Afrikaner die Spanienrundfahrt. Natnael Berhane gewann im gleichen Jahr die Afrikanischen Straßenradmeisterschaften – und gleich noch einmal im Jahr darauf.
Bis vor Kurzem hatte niemand eine Ahnung, dass die Eritreer verrückt nach Radsport sind, und das ist kein Wunder. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von 2012 belegt Eritrea den letzten Platz – noch hinter Nordkorea, Iran und Turkmenistan. In keinem anderen afrikanischen Staat sitzen mehr Journalisten im Gefängnis. Reporter ohne Grenzen nennt das Land „ein schwarzes Loch“ für Neuigkeiten.
Eritreas Leidenschaft für Radsport reicht bis in die Kolonialzeit zurück. Zunächst kolonialisierten die Italiener das Land, 1941 wurde es britisches Protektorat. Der erste Giro d’Eritrea wurde 1946 veranstaltet. Unter den 34 Fahrern waren keine Einheimischen – sie durften nicht teilnehmen. Im folgenden Jahr zog ein Guerillakrieg alle Aufmerksamkeit auf sich und so veranstaltete man nur ein kürzeres Rennen, den Giro delle Tre Valli, die „Drei-Täler-Tour“. Die Eritreer blieben zwar radsportbegeistert, aber es dauerte noch mehr als fünfzig Jahre (während derer sich das Land die meiste Zeit im Konflikt mit Äthiopien befand) bis zum nächsten Wettkampfrennen.
Bei den Anoca-Spielen des Verbandes der Nationalen Olympischen Komitees Afrikas in Kenia 2006 zeigte sich das Talent der eritreischen Radrennfahrer dann zum ersten Mal. Teklehaimanot erlangte gleich bei der Eröffnung im Einzelzeitfahren den Sieg und das Team Eritrea dominierte den Medaillenspiegel mit zweimal Gold, einmal Silber und einmal Bronze. Bei den Panafrikanischen Spielen in Algier ein Jahr darauf zeigte sich das Land noch einmal in Topform.
Dieser Erfolg hat aber auch für den Sport unglückliche Auswirkungen. Eritrea weist eine der höchsten Abwanderungsraten der Welt auf. So hat der staatliche Unterdrückungsapparat von Präsident Isayas Afewerki angefangen, sich Sorgen zu machen, dass die besten Fahrer die Gelegenheit von Wettkämpfen im Ausland nutzen könnten, um sich abzusetzen. Unter den diplomatischen Depeschen, die 2010 durch Wikileaks an die Öffentlichkeit kamen, befand sich auch ein Beitrag unter dem Titel „Eritreas zankende Oberste, flüchtende Fußballer, ängstliche Bibliothekare“. Darin wird beschrieben, wie die gesamte eritreische Fußballnationalmannschaft während eines Regionalwettbewerbs in Kenia 2009 abtrünnig wurde. Nach der Radweltmeisterschaft in Kopenhagen 2011 beantragten drei Fahrer aus Eritrea in Dänemark Asyl.
Momentan sind die Aussichten für die Zukunft des Radrennsports in Eritrea allerdings günstig. Die Regierung scheint begriffen zu haben, dass die Fähigkeiten der Radrennfahrer eine Möglichkeit sind, dem Land zur Abwechslung einmal positive Schlagzeilen in der Weltpresse zu verschaffen. „Wir erkennen unser Potenzial“, sagte auch Samson Solomon, der Trainer des Nationalteams. „Wir wollen, dass ein Fahrer aus Eritrea der erste schwarze Afrikaner bei der Tour de France wird.“
Aus dem Englischen von Rosa Gosch