Schöngeistige Höhenflüge
Die Schriftsteller Aris Fioretos und Durs Grünbein haben Gespräche veröffentlicht, die sie in den vergangenen zwanzig Jahren miteinander geführt haben
Als der amerikanische Schriftsteller Paul Auster und der Nobelpreisträger J. M. Coetzee im März 2013 ihren Briefwechsel veröffentlichten, meldete sich Literaturwissenschaftler Terry Eagleton zu Wort: Es sei ein romantischer Irrglaube, zu meinen, Schriftsteller hätten qua ihres Berufes etwas Interessanteres über Nuklearwaffen oder die Wirtschaftskrise zu sagen als der Normalbürger. Dieselbe Warnung möchte man jenen zurufen, die sich die gerade erschienenen „Verabredungen“ von Aris Fioretos und Durs Grünbein vornehmen.
Dabei klingt die Idee des Buches vielversprechend. Die beiden Literaten, Jahrgang 1960 und 1962, Romancier der eine, Dichter der andere, lernen sich wenige Jahre nach dem Fall der Mauer kennen und schließen Freundschaft. Dabei verbindet sie zunächst nicht viel mehr als ihr Alter: Grünbein wurde in Dresden geboren, diente in der Nationalen Volksarmee der DDR, brach sein Studium ab, stellte einen Ausreiseantrag und galt fortan als asoziales Element.
Während er in den 1980er-Jahren zum Putzdienst im Museum antreten musste, ging Fioretos – in Schweden geborener Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter – gerade zum Studium an der Yale University in die USA. Nach dem Mauerfall lernen sie sich kennen und verabreden sich in unregelmäßigen Abständen über einen Zeitraum von 1995 bis 2013. Sie treffen sich in der Wohnung des einen, verlaufen sich in der Wüste, versacken in einer Kneipe, machen eine Bootstour und gehen ins Museum. Es sind Orte, die durchaus Gesprächsstoff bieten: die ehemalige Berliner Wohnung eines RAF-Anwalts, die Wüste von Las Vegas, der Berliner Fernseh- und Funkturm, Ground Zero, Stockholm und Dresden. Doch zu kontroversen weltanschaulichen Debatten kommt es mitnichten.
Ganz im Gegenteil wirken gerade die ersten drei Begegnungen zwischen Fioretos und Grünbein aus den Jahren 1995, 1997 und 2001 so konstruiert und hochgestochen, dass man sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, hier habe einmal ein spontanes Gespräch stattgefunden. Die beiden Herren tun ostentativ ihre Belesenheit und Gelehrsamkeit kund, ergehen sich in Fremdworten und gefallen sich in der Pose des kosmopolitischen Kulturtheoretikers. Grünbein verwendet Begriffe wie „hyperboräische Region“ und „ätiologisch gesehen“, erteilt Nachhilfe in DDR-Kultur und erklärt, dass „sarkastisch“ vom griechischen „sarkazein“ abstamme. Selbst bei den alltäglichsten Beobachtungen steigern sich die beiden Literaten in hochphilosophische Betrachtungen hinein. Wie nur können zwei Menschen, die sich angeblich in der Wüste von Las Vegas verlaufen, so angstfrei seitenlang über die Physiognomie des Todes, den Monotheismus Jahwes und die Wüste als Anhäufung von „erigierte(n) Singularitäten“ sinnieren? Und wie viel lieber hätte man erfahren, wie die beiden „Ortsungebundenen“ nun wirklich den Weg aus der Wüste fanden!
Dabei stellen beide kluge Gedanken an, wenn sie zum Beispiel den Berliner Fernsehturm und den Berliner Funkturm als Symbole für zwei verschiedene Zeitalter der Medienlandschaft deuten. Dieser Eindruck kippt aber rasch in sein Gegenteil um, wenn Grünbein die idealistischen Medientheorien von Marshall McLuhan als gestrig abtut und ausgerechnet die Maxime der Frankfurter Schule, „Medien gleich Scheiße“, hochleben lässt. Fioretos wagt Äußerungen wie „Die Kunst des Schönen und des Süßlichen hat oft genug ihre eigene Aggressivität“ und tut den Roman des 19. Jahrhunderts tout court als den von Männern auf See, den des 20.?Jahrhunderts dagegen als den von Frauen zu Hause ab. Häufig fragt man sich, was den Gesprächsfluss überhaupt am Laufen hält, denn die beiden kommunizieren gerade in ihren ersten Begegnungen selten miteinander und stacheln sich höchstens zu noch extremeren schöngeistigen Höhenflügen an.
Interessant wird es dann, wenn es um den persönlichen Schreibprozess, den Beruf des Schriftstellers und private Leseerfahrungen geht. Fioretos und Grünbein befragen sich zu ihren schriftstellerischen Anfängen, schildern ihre ersten Schreibversuche und tauschen sich über wegweisende literarische Werke aus. Der Dichter Grünbein greift die Prosa an als tricksende Kunst, die nur das menschliche Illusionsverlangen befriedige, während das Gedicht ein „Schlag auf den Kopf“ sei. Fioretos kontert, der Roman sei mehr als ein Plot und Poesie nichts anderes als Atem, der als Rauch auf Papier gebannt wurde. Ihre abschließende Bildbeschreibung von Giorgiones Venus liest sich als ebenso erhellender wie vergnüglicher Kommentar zur schlummernden Göttin. Und ein Hauch von Schlagabtausch deutet sich in den abschließenden fünfzig Fragen und Antworten an, die sich die beiden in Form von Postkarten über die Jahre schicken. Auszüge aus diesen Fragen und Antworten lockern den Textteil bereits als Bildlegenden auf, denn in die Gespräche eingestreut sind vierzig Bilder – von Kunstwerken, Naturphänomenen, Städteporträts, Kinderbuchillustrationen. Sie liefern amüsante, bisweilen spöttische Kommentare zu den hochgestochenen Konversationen, wenngleich unklar bleibt, warum welches Bild an welcher Stelle in den Text eingestreut ist und von wem es ausgewählt wurde.
Auch gibt es durchaus berührende Momente, wenn etwa Grünbein darüber berichtet, wie er in den 1980er-Jahren den Boden des Mathematisch-Physikalischen Salons im Dresdner Zwinger schrubben musste, und beim erneuten Besuch des Museums so gebannt ist, dass er Fioretos‘ Fragen schlichtweg überhört. Auch Fioretos spricht offen über seine Kindheitsfantasien oder den Umgang mit Leichen bei seiner Aushilfstätigkeit im Krematorium. Doch diese Momente werden meist rasch durch abs-trahierende Reflektionen eingeholt. Zudem kreisen Fioretos und Grünbein in einem rein männlichen Orbit, der ökonomische Zwänge und politische Umstände ästhetisiert. Formen kultureller Differenz wie Geschlecht, Sprache, Hautfarbe oder Religion kommen nicht vor, Referenzen aus der Populärkultur oder schreibende Frauen ebenso wenig.
In einer New Yorker Bar bemerkt Fioretos einmal selbstkritisch nach mehreren Drinks: „Je länger wir hier rumsitzen, um so wilder werden die Phantasien.“ Und Grünbein warnt in derselben Stadt, als intellektueller Allesversteher in die „Falle der Interpretation“ zu tappen. Solche Erkenntnis und Selbstironie hätte man dem Buch öfter gewünscht.
Verabredungen. Gespräche und Gegensätze über Jahrzehnte. Von Durs Grünbein und Aris Fioretos. Suhrkamp, Berlin, 2013.