Muskeln für die Massen
Im Hochleistungssport gilt die Einnahme anaboler Steroide als Doping. Viele Männer schlucken sie längst regelmäßig.
Die weltweite Einnahme von anabolen Steroiden gleicht heute einer Epidemie. Ihr wichtigstes Symbol ist der muskelbepackte Körper, der für viele Männer in aller Welt zum Inbegriff für Dynamik und sexuelle Attraktivität geworden ist. Ausgebrochen ist diese Epidemie zu Beginn der 1960er-Jahre und hat sich seitdem stetig verbreitet. „Androgene“, das heißt hormonaktive Substanzen entwickelten sich in drei verschiedenen Bereichen parallel: Sie wurden in der medizinischen Therapie verwendet, von Bodybuildern und Athleten als Mittel zum Muskelaufbau eingenommen und machten als Anti-Aging-Mittel zur Steigerung der sexuellen Attraktivität und des äußerlichen Erscheinungsbilds Karriere. Heute sind androgene Substanzen durch ihre missbräuchliche Verwendung im Sport und ihren Ruf als Verjüngungsmittel sehr viel bekannter als durch den legitimen Einsatz in der Therapie, für den sie vor fast einem Jahrhundert eigentlich entwickelt wurden.
Testosteron, das wichtigste anabole Steroid, wurde in Europa erstmals 1935 im Labor hergestellt. Bereits 1940 waren zwei seiner Derivate, Testosteron-Propionat und Methyltestosteron, in der klinischen Erprobungsphase, wo sie zur Behandlung störender Symptome alternder Männer sowie für verschiedene andere dubiose medizinische Zwecke verwendet wurden. Der einzig vernünftige Gebrauch synthetisch hergestellter androgener Substanzen war und ist eine Therapie für Männer, deren Körper nicht genügend eigenes Testosteron produziert. Dieses Leiden ist unter der Bezeichnung Hypogonadismus bekannt. Der Ruf von Testosteron als sexuell stimulierendes Mittel entstand während der frühen klinischen Verwendung in den 1940er-Jahren. Der Einsatz als Bodybuilding-Mittel in den Vereinigten Staaten geht auf die 1950er-Jahre zurück. Die erste Phase der flächendeckenden Verwendung durch Spitzensportler setzte im Verlauf der 1960er-Jahre ein.
Der weltweite Aufstieg des anabolen Steroids als attraktives leistungsförderndes Mittel begann mit dem Dokumentarfilm „Pumping Iron“ im Jahr 1977. Dieser Film machte Arnold Schwarzenegger zu einer internationalen Ikone. Seine Popularität hat mehr zur Förderung der Attraktivität anaboler Steroide in aller Welt beigetragen als alles andere. Im Englischen benennt der Ausdruck „on steroids“ (deutsch: „auf Stereoiden“) heute eine positive Eigenschaft von Stärke, Vitalität und Dynamik. Dem „Krieg“ gegen Drogen und der weltweiten Anti-Doping-Kampagne im Sport ist es nicht gelungen, die Einnahme androgener Substanzen zu stigmatisieren.
Legitimität erhalten diese Mittel auch durch andere akzeptierte Manipulationsverfahren wie etwa die plastisch-ästhetische Chirurgie oder die Einnahme verschiedener Subs-tanzen für die Leistungssteigerung am Arbeitsplatz: Nachtarbeiter schlucken psychostimulierende Mittel gegen Schläfrigkeit, Studierende dem Amphetamin ähnliche Aufputschmittel. Weit verbreitet ist das Trinken koffeinhaltiger Getränke, sogenannter „Energydrinks“, am Arbeitsplatz.
Pharmakologische Strategien sind als Mittel zum Erfolg Bestandteil des modernen Lebens in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft. Der soziale Status der verschiedenen Verfahren zur „Verbesserung“ der Leistungsfähigkeit ist jedoch oft ungeklärt. Die Verwendung androgener Substanzen für medizinische Zwecke gilt beispielsweise als legal, im Hochleistungssport dagegen als illegal und als Anti-Aging-Mittel immerhin noch als quasilegal. Diese Mehrdeutigkeit eröffnet Chancen für pharmazeutische Hersteller von Testosteron-Präparaten. Die Fernsehwerbung in den Vereinigten Staaten präsentiert Testosteron gegenwärtig als Wundermittel mit verjüngender Wirkung, obwohl es dafür von den gesetzgebenden Instanzen nie zugelassen worden ist.
Anabole Steroide haben in diesem Verbesserungsszenario einen besonderen Stellenwert, denn Testosteron ist das „männliche“ Hormon. Androgene Subs-tanzen haben eine Art weltweites Anabolika-Universum geschaffen, das von actionorientierten Männern bevölkert wird. Sie gehören einem untereinander verbundenen Spektrum verschiedener Subkulturen an und haben sich die Verwendung von anabolen Steroiden als Mittel für den Muskelaufbau und als auf die Psyche wirkendes, die Aggressivität förderndes Aufputschmittel zu eigen gemacht.
Zu diesen Subkulturen zählen neben Polizisten und Soldaten auch Feuerwehrmänner, Söldner, Actionfilm-Stars, Bodybuilder, Türsteher, Mitglieder von Motorradbanden, Profi-Wrestler, Kampfsportler, Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste, Halter von Kampfhunden, Mitglieder rechtsextremer Gruppen in den Vereinigten Staaten und gelegentlich auch ein Terrorist wie der norwegische Massenmörder Anders Breivik. Einige dieser Subkulturen sind wahrhaft global. Eine Vorliebe für den „violent chic“ hat beispielsweise Bodybuilding und Kampfsportarten in der arabischen Welt populär gemacht.
Polizisten und Soldaten im Kampfeinsatz sind die wichtigsten und potenziell gefährlichsten Gruppen von Konsumenten anaboler Steroide. Tausende, möglicherweise sogar Zehntausende von Polizisten greifen gegenwärtig zu diesen Substanzen. Eine Schätzung der Zahl von Soldaten, die solche Mittel benutzen, ist noch schwieriger, aber führende Militärs in den Vereinigten Staaten und in Australien zeigten sich bereits besorgt über den Konsum unter ihren Soldaten, nur können sie nicht viel dagegen tun. Nach allem, was über die Förderung hyperaggressiven Verhaltens durch Anabolika bekannt ist, müsste die Einnahme anaboler Steroide durch Polizisten und Soldaten im Kampfeinsatz verboten werden, denn sie stellt eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar.
Robert Bales, ein amerikanischer Soldat, der im Jahr 201116 Mitglieder einer afghanischen Familie umbrachte, nahm zur Tatzeit Steroide wie auch Alkohol zu sich. Gegner eines Verbots anaboler Steroide bringen dagegen vor, dass die körperlichen und psychologischen Wirkungen der Substanzen gerade die persönliche Sicherheit des Polizisten oder Soldaten steigern – und damit auch die öffentliche oder militärische Sicherheit.
Die Regulierung des Steroidkonsums von Polizisten und Soldaten stößt auf mehrere Hindernisse. Zunächst einmal ist Doping am Arbeitsplatz in vielen beruflichen Umfeldern inzwischen weit verbreitet. Darauf können sich Polizisten und Soldaten von Kampfeinheiten berufen und gute Gründe für die Einnahme von anabolen Steroiden im Dienst vorbringen. Zweitens überschneidet sich die Polizeikultur mit verschiedenen anderen männlichen Subkulturen, in denen Steroide ebenfalls eine Rolle spielen. Polizisten gehen zum Beispiel auch gerne zum Kampfsport oder in Fitnesscenter, wo die Einnahme von Steroiden propagiert wird. Drittens können Polizisten sich auch auf die erlaubte medizinische Verwendung von Steroiden als Anti-Aging-Medizin berufen.
Die Einnahme von Steroiden durch Polizisten und Angehörige der Streitkräfte sorgt schließlich auch für eine latente Autoritätskrise aufseiten der Befehlshaber, die gelegentlich den zunehmenden Steroidkonsum ihrer Untergebenen verurteilen. Ein Skandal, in den im Jahr 1987 eine kriminelle Bande Steroide konsumierender Polizisten verstrickt war, veranlasste einen ehemaligen Polizeichef von Miami damals zu folgendem Kommentar: „Es ist möglicherweise an der Zeit, dass die Polizei eine bewusste Entscheidung darüber trifft, ob es annehmbar ist, wenn Polizeibeamte Steroide nehmen.“ Heute, wo anabole Substanzen als akzeptiertes Mittel gegen Alterserscheinungen auf dem Markt sind, ist die Überlegung, diese Präparate für Polizisten verbieten zu lassen, als sinnloses Unterfangen zu werten.
Daran lässt sich ablesen, wie sehr sich die soziale Bewertung dieser Substanzen in der Zwischenzeit verändert hat. Es gibt kaum einen Anhaltspunkt dafür, dass die Verurteilung des Steroidkonsums durch staatliche Stellen die einschlägigen Gewohnheiten dieser actionorientierten Berufsgruppen verändern wird. Der Steroidkonsum ist in diesen männlichen Subkulturen zu fest verankert und der politische Wille zu schwach, um eine echte Reform zu ermöglichen.
Aus dem Englischen von Werner Roller