Beweg dich. Ein Heft über Sport

Leistung ist nicht alles

Was die olympische Idee mit unserer Vorstellung von der Wettbewerbsgesellschaft zu tun hat

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das ist zweifellos richtig, wenn man es in einem alltagssprachlichen Sinne versteht. Versteht man es aber in einem gesellschaftstheoretischen und insofern strikt terminologischen Sinne, dann kann man geteilter Meinung sein. Denn dann sind die Angebote vielfältig: Leben wir nicht doch eher in einer Risiko-, in einer Erlebnis-, in einer Wissensgesellschaft? Entsprechend kann man auch darüber streiten, in welcher Gesellschaft der olympische Sport am Ende des 19. Jahrhunderts entstand: in der Industrie- und Leistungsgesellschaft oder nicht doch in der bürgerlichen Gesellschaft?

Diese Frage muss deshalb gestellt werden, weil die Wahl der Gesellschaftstheorie darüber befindet, wie man den modernen Olympismus, also die Einheit von Idee, Bewegung und Zielen der Olympischen Spiele, deutet. Nimmt man ihn als Phänomen der Leis­tungsgesellschaft, dann ist er Ausdruck des Prinzips der Leistungssteigerung, und das Motto „Schneller, höher, stärker“ macht ihn im Kern aus – alles andere, etwa der Geist der Fairness oder das „Dabeisein ist alles“, ist dann nur ein ideologisches Mäntelchen. Nimmt man den Olympismus dagegen als Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft, dann ist er Ausdruck des Prinzips des gerechten Leistungsvergleichs. Alle Probleme des olympischen Sports mit dem Geist der Fairness sind dann Indikatoren für Probleme der bürgerlichen Gesellschaft, das Versprechen der Leistungsgerechtigkeit tatsächlich zu realisieren.

Das Phänomen, dass jede und jeder von uns angehalten ist, Leistung zu zeigen, ist ganz unstrittig – wir werden uns, am Beispiel des Sports, sehr schnell darüber verständigen können, dass es im Leistungssport um Leistung und ja, auch um Leis-tungssteigerung geht, und wir werden uns auch ganz schnell einig sein, dass dies sehr beglückende Wirkungen zeigt und auch sehr problematische. Aber das sagt noch nicht viel – eben weil das beinahe selbstverständlich ist. Das unstrittige Phänomen der Leistung sagt nicht selbst, wie es interpretiert werden will. Hängt man dann zu sehr an den Phänomenen, dann ist man sich zu schnell einig, dass es beim olympischen Sport klarerweise immer nur um Leistungssteigerung gehe und dass folglich das Beschwören von Fairness bloßes Gerede sei – sei es in Sonntagsreden von Sportfunktionären, sei es zur besseren Vermarktung. Das entspricht völlig der verbreiteten Meinung, dass Gerechtigkeit oder Würde zwar schöne und hehre Ideale sein mögen, dass man aber doch sehe, was es damit auf sich habe, und dass es Gerechtigkeit und Würde nirgends gibt.

Das ist eine falsche Konsequenz aus der richtigen Kritik an bloßen Idealen. Es spricht nicht gegen das Prinzip der Würde, dass permanent dagegen verstoßen wird – ganz im Gegenteil benötigt man das Maß der Würde, um Verstöße dagegen nicht lediglich moralisch zu bedauern, sondern als Verstöße gegen einen Rechtsanspruch bloßstellen zu können. Gerechtigkeit, Würde, Fairness sind nicht utopische Ideale, sondern im Hier und Jetzt verbindlich geltende, und wirksame Maßstäbe der Beurteilung der Güte unseres gelebten Miteinanders. Und das ist so, weil und solange wir in der bürgerlichen Gesellschaft leben – und das wäre nicht so, würden wir stattdessen in der Leistungsgesellschaft leben.

Das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft liegt darin, dass sie im radikalen Bruch mit allen ständischen Gesellschaften soziale Mobilität gewährleis-ten will. Unsere soziale Stellung soll nicht qua Geburt festliegen, um sich höchstens durch Zufall oder Gnadenakt zu verändern, sondern das Versprechen liegt darin, dass unser eigenes Tun unsere soziale Stellung ändern kann. Soziale Mobilität ist dabei kein Selbstzweck, denn uns wäre wenig geholfen, wenn wir unsere soziale Stellung zwar ändern könnten, aber nur zum Schlechteren hin. Es geht vielmehr darum, ungleiche Startbedingungen aktiv auszugleichen (Sozialstaatsprinzip), damit sich auf dieser Basis das Erbringen eigener Leistung im Vergleich zu anderen lohnt, aber doch so, dass dabei die soziale Schere nicht auf Dauer auseinandergeht. Kurz: Soziale Mobilität ist in der bürgerlichen Gesellschaft an Leistungsgerechtigkeit gebunden.

Der olympische Sport ist die spielerische Inszenierung dieses Versprechens: Bei tatsächlicher Chancengleichheit entscheidet nur die eigene Leis­tung über Sieg und Niederlage. Der Witz daran ist, dass die eigene Leistung auch erst bei dieser Ausgangslage entscheiden kann – gegen einen von vornherein schwächeren Gegner zu gewinnen, ist keine (sportliche) Kunst. Die nötige Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit muss aktiv hergestellt und aufrechterhalten werden. Deshalb gibt es Einteilungen in Gewichtsklassen; ein Verbot grober Tätlichkeiten oder Regeländerungen bei der Formel 1, sobald die rein technischen Vorteile einer Automarke so groß sind, dass sie durch noch so gute Teamleistung nicht mehr ausgeglichen werden können. Das Grundprinzip ist das der Fairness: Es darf nicht schon vorher feststehen, wer den Wettkampf gewinnen wird – erst dann kann man sicher sagen, dass individuelle (Team-)Leistung den Ausschlag über Sieg und Niederlage gegeben hat. Und im Rückspiel schon kann es ganz anders ausgehen.

Sportliche Leistung ist daher eine bedingte Leis­tung. Es kommt gerade nicht darauf an, als Erster im Ziel zu sein, sondern es kommt bei einem sportlichen Wettkampf alles darauf an, auf eine bestimmte Art und Weise als Erster im Ziel zu sein. Wer beim Marathon eine Abkürzung läuft und sich nicht erwischen lässt, der hat auch eine Art von Leistung erbracht, aber keine sportliche. Es geht im olympischen Sport nicht um den puren Erfolg, sondern um einen fair erbrachten Sieg – also um einen Sieg, bei dem vor und während des Wettkampfs sichergestellt ist, dass auch der Gegner hätte gewinnen können.

Gerade das aber ändert sich unter unseren Augen. Der olympische Sport stellt vom Leistungsprinzip auf das Erfolgsprinzip um. Um nur ein einziges Symptom zu nennen: Wenn man, wie der Deutsche Olympische Sportbund, die Sportförderung an die Anzahl der bei den nächsten Olympischen Spielen zu erreichenden Medaillen koppelt, dann ist in die Verteilung der Fördergelder eine Mechanik eingebaut, die es diesseits der erklärten Absichten gleichgültig machen muss, auf welche Art und Weise die Medaillenerfolge zustande kommen, Hauptsache sie kommen zustande. Die Verfechter der Theorie der Leistungsgesellschaft bekommen Oberwasser, denn die Befundlage scheint eine deutliche Sprache zu sprechen: War es nicht schon immer so, dass die Rede von „Fairness“ bloßes Gerede war? Sind wir nie Citoyens gewesen? Kann man die Befundlage anders interpretieren, ohne sie zu bestreiten oder schönzureden?

Die entscheidende Frage ist, ob die bürgerliche Gesellschaft ihr Versprechen der Leistungsgerechtigkeit überhaupt erfüllen kann. Sind wir konfrontiert mit Problemen der Durchführung oder ist das Versprechen grundsätzlich nicht erfüllbar? Der Lackmustest liegt jenseits der Leistungsgerechtigkeit in der Frage, was im Konzept der bürgerlichen Leistungsgerechtigkeit mit denen geschieht, die nichts leisten: Säuglinge, Komapatienten, Alte, chronisch Kranke, geistig Behinderte. Leistungsgerechtigkeit ist auch noch denkbar zwischen einer Teilgruppe der Gesellschaft; erst die erklärte Unantastbarkeit der Würde sichert auch den Schutz und die Inklusion derjenigen, die noch nicht, nicht mehr oder akut nichts leisten. Leisten in Würde muss deshalb ein Einklammern des Leistens sein, ein Leisten unter Vorbehalt sozusagen.

Dies wäre in zwei Schritten umzusetzen: Erstens ginge es in einer bürgerlichen Gesellschaft und im entsprechenden Sport um fairen Leistungsvergleich, nicht um Leistungssteigerung. Die wichtigste Konsequenz liegt darin, dass das Kriterium für einen guten Sport im Miteinander liegt, also weder in der rein individuellen Moral noch in rein von außen auferlegten Normen. Das Gebot der Fairness ist ein Appell an eine gemeinsame Sache, nicht ein Appell an individuelle Heroik. Zweitens ginge es darum, diesen fairen Leistungsvergleich sozusagen mit Augenzwinkern, als schönste Nebensache zu vollziehen. Beim Sport muss man sehr ernsthaft gewinnen wollen, aber so ernst nun auch wieder nicht. Vor allem muss man ein aktives Interesse haben, dass auch der Gegner gewinnen können muss, denn sonst ist es keine eigene Leistung. Leistung in Würde ist daher an der Güte der praktizierten „Kultur der Niederlage“ ablesbar.