Fischer gegen AKWs

Die indische Regierung setzt auf den Ausbau der Atomenergie und errichtet neue Meiler. Die Bewohner in den umliegenden Dörfern protestieren. Die Kehrseite eines Entwicklungsmodells

Indien wird oft die größte Demokratie der Welt genannt. Doch der Alltag vieler Inder wird heute von Korruption, sozialer Ungerechtigkeit und akuter Armut bestimmt. In den meist kurzsichtigen Debatten über Wachstum und Entwicklung sind Zahlen oft mehr wert als das wirkliche Leben der Menschen. Aber in den entlegensten Ecken des Subkontinents glimmen derzeit Hoffnungsschimmer auf. Menschen, denen offizielle Stellen lange Zeit keine Beachtung geschenkt haben, kämpfen für den Schutz ihrer Lebensgrundlagen. Eines der beeindruckenden Beispiele dieser neuen Bürgerbewegungen sind die anhaltenden Proteste gegen ein Kernkraftwerk in Kudankulam an der östlichen Spitze der indischen Halbinsel.

Vor einem Vierteljahrhundert begannen in den Dörfern rund um Kudankulam im Bundesstaat Tamil Nadu Menschen gegen die geplante Kernkraftanlage gewaltfrei zu kämpfen: Zuerst richteten sich die Proteste der Bewohner von Idinthakarai, Kudankulam, Kootankulli, Perumanal und Kootapulli gegen den Verkauf des Landes für den Bau des Meilers; dann gegen die Wasserentnahme für die Anlage aus einem Staubecken, wodurch angrenzende Gemeinden überschwemmt werden könnten; und schließlich gegen die Auswirkungen der Strahlung auf die maritime Tier- und Pflanzenwelt. Fischer aus meist katholischen Gemeinden führten die Proteste an. Über die Jahre haben sich Tausende von Menschen aus den Nachbardörfern angeschlossen und die Frauen unter ihnen stehen dabei an der Spitze der Bewegung. Das stellt für indische Verhältnisse immer noch eine Besonderheit dar – nicht nur auf dem Land bestimmt bis heute die Zugehörigkeit zu Klasse, Kaste und Geschlecht, welche Rolle man in der Gesellschaft einnimmt.

Die Pläne für die Nuklearanlage in Kudankulam reichen bis ins Jahr 1988 zurück, als der damalige indische Ministerpräsident Rajiv Gandhi und der sowjetische Präsident Michael Gorbatschow einen Kooperationsvertrag unterzeichneten. Schon damals gab es großen Widerstand gegen das Projekt, aber erst der Zerfall der Sowjetunion und Rajiv Gandhis Ermordung ließen die Pläne zunächst in der Versenkung verschwinden. 2002 begann schließlich der Bau der Anlage mit Druckwasserreaktoren russischen Typs. Geplant war die Errichtung von sechs Reaktorblöcken. Ende 2013, mehr als zehn Jahre nach Baubeginn, stehen allerdings nur Reaktorblock 1 und 2. Die bisherigen Kosten belaufen sich nach inoffiziellen Angaben bereits auf 170 Milliarden indische Rupien (umgerechnet 2,02 Milliarden Euro).

Bislang wurde Indiens Wachstumsgeschichte von den Träumen der städtischen Eliten und Technokraten angetrieben, die das Land zur Weltmacht aufbauen wollen. Die Protes­tierenden in Kudankulam erheben ihre Stimme dagegen für eine nachhaltige und sozial ausgewogene Entwicklung. Sie verlangen einen Stopp des Baus der Atomanlage und fordern mehr Transparenz bei Planung und Betrieb von Atomanlagen. Eine ihrer zentralen Forderungen lautet: Kernenergie darf der Bevölkerung nicht aufgedrängt werden. Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima 2011 haben die Kernkraftgegner Zulauf bekommen.

Sie bedienen sich heute vieler kreativer Formen des Protests: Demonstranten laufen in großen Gruppen weit ins Meer hinaus, fahren mit hunderten Booten vor das Kernkraftwerk und rufen ihre Forderungen oder sie vergraben sich im Sand in der Nähe der Atomanlage. Kinder aus den Dörfern haben Postkarten an den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den indischen Premierminister Manmohan Singh geschrieben. Ein Besuch in Idinthakarai, dem Mittelpunkt der Proteste, ist eine ermutigende und gleichzeitig verstörende Erfahrung. Die Menschen im Dorf sind voller Energie und Hoffnung. Außerhalb des Ortes hat die Polizei Straßensperren errichtet. Fahrzeuge werden kontrolliert und Journalisten der Zutritt oft verwehrt.

Die Lage in Kudankulam stellt sich aber ganz anders dar, wenn man den indischen Politikern oder den Kommentatoren großer Medien zuhört. Statt die Proteste der Anwohner ernst zu nehmen, preisen sie gebetsmühlenartig die Errungenschaften der Kernenergie. Den Blick für die Realitäten vor Ort scheinen sie verloren zu haben. Das überrascht wenig. Die indischen Atomenergiebehörden gelten seit ihrer Gründung kurz nach der Unabhängigkeit des Landes 1947 als wenig transparent. Das Department of Atomic Energy (DAE) und seine Unterorganisationen Nuclear Power Corporation of India Limited (NPCIL) und Atomic Energy Regulation Board (AERB) agieren seit Jahrzehnten elitär, undurchsichtig und rücksichtslos.

Zudem stellt sich die Frage, warum ein Land wie Indien lautstark die Kernen­ergie fordert, während global betrachtet der Trend in die entgegengesetzte Richtung geht. Allerdings ist Südasien mit einem immer mächtiger werdenden chinesischen Nachbarn eine sehr angespannte Weltregion, in der sich das Wettrüsten nach dem Ende des Kalten Krieges sogar noch verstärkt hat. Auch wenn die indische Regierung betont, mit dem Ausbau der Kernenergie in erster Linie die Entwicklung des Landes vorantreiben zu wollen, sind doch Militär- und Atommacht die Muskeln, die auch Indien spielen lassen möchte.

Der Atomphysiker M.V. Ramana analysiert in seinem neuen Buch „The Power of Pro­mise – Examining Nuclear Energy in India“ die Resultate des indischen Atomprogramms. Er zeigt, dass die Kernenergie selbst nach enormen Investitionen in Indien weiterhin weniger als drei Prozent zur Energieerzeugung des Landes beisteuert (4,78 von 205 Gigawatt). Das liegt weit hinter den Ankündigungen verschiedener indischer Regierungen der Vergangenheit zurück. Aber die Staatsausgaben für die Kernenergie werden dennoch ständig erhöht, ohne dass die Erträge im entsprechenden Maße steigen – was vor allem an der Korruption, der Ineffizienz und dem Missmanagement der beteiligten Behörden liegt.

Der derzeitige Premierminister, Manmohan Singh von der Kongresspartei hegt dennoch die Vision, dass der Anteil von Kernenergie an der indischen Energieproduktion bis zum Jahr 2050 um mehr als hundert Prozent auf 470 Gigawatt wachsen wird. In der Tat leidet Indien heute unter einem riesigen Energiemangel. Während die Werbebroschüren der multinationalen Konzerne und der staatlichen Stellen voll sind mit Bildern von Indien als IT-Zentrum, ist die traurige Wahrheit, dass 65 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch rund 200 Millionen Menschen keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der Nobelpreisträger Amartya Sen und der Aktivist Jean Dreze zeigen in ihrem jüngsten Buch „India: An Uncertain Glory“ auf, wie „schlechte Planung“, „die Bevorzugung bestimmter einflussreicher Gruppen“ der Bevölkerung, der Industriesektor mit seinem hohen Energiebedarf und die zügellose und „ungeplante Urbanisierung“ zu der Ener­giekrise geführt haben.

Die gleichzeitig grassierende hohe Korruption hat auch den Atombetrieb nicht verschont. In den vergangenen Monaten haben Aktivisten Berichte über das Innere der Atomanlage in Kudankulam öffentlich gemacht, in denen die mangelhafte Ausstattung beschrieben werden. Die Ausrüstung stammt von der Firma ZioPodolsk, einem russischen Maschinenbauunternehmen. Bereits Anfang 2012 erhob der russische Inlandsgeheimdienst FSB Anklage gegen einen Mitarbeiter der Firma, Sergei Shutov, weil er minderwertiges Rohmaterial als hochwertiges verkauft und damit eine stattliche Summe verdient haben soll. In dem in der Anklage angegebenen Zeitraum lieferte Shutov Material für den Bau von Reaktoren in Indien. Auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) hat in der Vergangenheit ihre Bedenken zum Ausdruck gebracht, als sie feststellte, dass „es genügend Beweise gibt, die nahelegen, dass die zivilen Atomanlagen in Indien besonders unsicher sind“.

Seit Juli 2013 ist das Kernkraftwerk Kudankulam offiziell betriebsbereit. Die Proteste gehen ungebrochen weiter. Die Anführer des People’s Movement Against Nuclear and Atomic Energy (PMNAE) S.P. Udayakumar, Victoria Pushparayan und Muglian Swamiyathal haben in Dörfern rund um Kundankulam Unterschlupf gefunden. Seit über zwei Jahren sind sie auf der Flucht vor den Behörden. Und das nur, weil der Staat teils bizarre Anklagen gegen sie erhoben hat. Sie seien „antinational“ und würden „einen Kampf gegen den Staat“ führen, lauten die Vorwürfe. Die Anwälte der Atomkraftgegner haben eine Liste mit über 300 solcher Anschuldigungen und Fälle gegen rund 227.000 Menschen aus der Gegend zusammengetragen.

In einem Urteil vom 6. Mai 2013 wies der Oberste Gerichtshof die Regierung an, die Anklagen zurückzuziehen. Geschehen ist seitdem nichts. Ein Minister der derzeitigen Regierung hat stattdessen wiederholt – ohne dafür Beweise vorzulegen – geäußert, die Protestbewegung sei durch „das Ausland“ finanziert. Das ist eine perfide Taktik, die der indische Staat seit Jahrzehnten gegen jeglichen Widerstand der Bevölkerung einsetzt. Die Dorfbewohner geben ihrerseits an, dass jeder Haushalt seit zwei Jahren rund ein Zehntel seiner monatlichen Einnahmen für die Unterstützung der Kernkraftgegner spendet. Nicht zuletzt durch den Einsatz sozialer Medien sind die Proteste gegen die Atomanlage mittlerweile in Indien landesweit bekannt geworden. Viele ähnliche Bürgerbewegungen sind in Dörfern um Mithi Virdi, Jaitapur, Gorakhpur, Chutka und Kowadda entstanden – alles Orte, an denen die indische Regierung den Bau neuer Atomanlagen plant.

Aus dem Englischen von Rosa Gosch