Die unendliche Geschichte
Ein Roman lässt sich in jede Sprache übersetzen - und von da aus immer weiter, behauptet Adam Thirlwell
Was ist das hier eigentlich – ein Roman, ein Essayband, eine kulturhistorische Abhandlung, eine Theorie des Übersetzens?“ Bestsellerautor Daniel Kehlmann nimmt in seinem Klappentext vorweg, was sich wohl jeder Leser nach wenigen Seiten von Adam Thirlwells experimentellem Sachbuch „Der multiple Roman“ fragen wird.
An dessen Anfang steht die nur auf den ers-ten Blick banale Feststellung, dass die großen Romane der Weltliteratur oft in der Übersetzung rezipiert würden. Thirlwell bezeichnet diese Übersetzungen als Multiples, also Werke einer Reihe seriell hergestellter Objekte. Ein Roman ist eine derart komplexe Komposition, dass es sich für Thirlwell auch bei der perfektesten Übertragung in eine andere Sprache um eine völlig andere Sache handeln muss – „als imitiere man die exakten Maße von Michelangelos David und stellte ihn dann aus Wackelpudding her.“
Dennoch kommt Thirlwell, selbst Autor zweier Romane, zu der Erkenntnis, dass der Stil jedes literarischen Werks sich grundsätzlich in jede andere Sprache übertragen lässt. In diesem Prozess der Aneignung entsteht ein neues Original, das eigenständig neben der ursprünglichen Version existieren kann. Und er geht sogar noch weiter: „Stil ist etwas internationales. Stil überlebt Migrationen, nicht nur eine zweite Sprache, sondern auch eine beliebige dritte Sprache.“ Belege dafür sucht und findet Thirlwell in der Literaturgeschichte. Als gewichtigen Zeugen lässt er zum Beispiel Puschkin auftreten. Dieser habe Laurence Sternes Roman „Tristram Shandy“ in französischer Übersetzung gelesen – nicht einmal in einer besonders guten. Die innovativen Schreibtechniken Sternes habe Puschkin dann in „Eugen Onegin“ verarbeitet. „Der erste große russische Roman“, stellt Thirlwell also fest, „war eine Überarbeitung einer französischen Travestie eines englischen Avantgarde-Experiments.“ Daraus zieht der Autor Schlüsse für die Praxis des Übersetzens. Anstatt der üblichen Stillarbeit eines zweisprachigen Einzelkämpfers schweben ihm „internationale amateurhafte Produktionen“ vor, „die sich der Schöpfung neuer Originale verschrieben haben“. Als Vorbild dafür führt Thirlwell die Kollektivübersetzung eines Kapitels von James Joyces vermeintlich unübersetzbarem Fortsetzungsroman „Work in Progress“ – heute als „Finnegans Wake“ bekannt – ins Französische an. Statt wortwörtlich zu übersetzen, suchte das von Joyce selbst aus seinem polyglotten Freundeskreis rekrutierte Team Entsprechungen, die den Rhythmus und die Melodie der Wörter und Sätze des Originals imitierten. Um sinngetreu zu sein, muss die Sprache die Effekte der Ausgangssprache nachbilden. Nicht Texttreue, sondern „kreative Energie für Neugestaltung“ ist gefragt. Davon ist Thirlwell überzeugt und phantasiert vom „Aufbau eines Emporiums internationaler Produktionen“. Das passt wunderbar in den heutigen von Do-it-yourself-Amateurtum, der Idee der Schwarmintelligenz und einem Misstrauen gegen rigides Copyright geprägten Zeitgeist.
Dass andere historische Umstände auch andere Modelle idealer Übersetzungen hervorbringen, zeigt Thirlwell am Beispiel von Vladimir Nabokov. Dem Russen ist neben dem Italiener Carlo Emilio Gadda und dem Tschechen Bohumil Hrabal ein eigenes Kapitel – von Thirlwell als „Hommage“ betitelt – gewidmet. In Nabokovs Übergang von der freien, formalen Übersetzung zur radikal wortwörtlichen Methode, die er bei seinen Puschkin-Übersetzungen anwandte, sieht Adam Thirlwell eine Folge von Nabokovs Isolation im Exil. Verzweifelt habe der Schriftsteller versucht, einer von ihm als vom Aussterben bedroht empfundenen Literatur gerecht zu werden.
Mit solchen oft bewegenden Beispielen führt Thirlwell vor Augen, wie international und untrennbar mit der Geschichte verbunden die großen Werke der Weltliteratur, ihre Autoren und ihre Leser sind. Indem er sich auf einen Text von Jorge Luis Borges bezieht, kommt Thirlwell zu dem Schluss, dass die identische Überarbeitung eines literarischen Werks unmöglich ist. Selbst wenn man heute Cervantes’ „Don Quijote“ Wort für Wort abschreiben würde, es wäre nicht der gleiche Text, sobald er auf einen von der Philosophie und den Wertvorstellungen des 21. Jahrhunderts geprägten Leser trifft.
Letzteren beansprucht Thirlwell mit seinen Abschweifungen, seiner Detailverliebtheit und dem nicht immer leicht zu folgenden Argumentationsstrang mitunter stark. Das scheint ihm bewusst zu sein und so wendet er sich immer wieder augenzwinkernd, um Aufmerksamkeit buhlend an den „lieben Leser“ oder belohnt ihn mit Anekdoten aus der Literaturgeschichte. Irgendwie geht die Rechnung auf und über weite Strecken lässt man sich von Thirlwells spürbarem Enthusiasmus für sein „internationales Projekt“ gern mitreißen.
Der multiple Roman. Von Adam Thirlwell. Aus dem Englischen von Hannah Arnold. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2013.