„Der Wille der Toten“
Der Theaterregisseur erzählt, wie sich die Atomkatastrophe von Fukushima auf das Zusammenleben der Menschen in Japan auswirkt
Sie sagen, dass sich die japanische Gesellschaft als Folge der Atomkatastrophe von Fukushima zunehmend aufspaltet. Was meinen Sie damit?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Meine Familie und ich glauben nicht, dass Tokio eine Stadt ist, in der man nach dem Desaster noch ohne Weiteres gefahrlos leben kann. Es ist vielleicht möglich, aber mit viel Stress und Unsicherheit verbunden. Das Problem ist nicht nur die Radioaktivität in der Luft, sondern auch die Frage, ob die Lebensmittel in den Geschäften sicher sind. Deshalb bin ich mit meiner Frau und meinem Kind umgezogen. Wenn ich für Proben nach Tokio muss, weil viele Schauspieler, mit denen ich arbeite, dort wohnen, tue ich das mit gemischten Gefühlen. Manchmal kommt in mir das Bedürfnis hoch, Menschen, die weiterhin in der Stadt leben, zu fragen: Ist es wirklich in Ordnung, hier zu leben? Aber genauso könnten sie zu mir sagen: Warum kommst du dann nach Tokio zurück? Wenn das Leben hier so schwierig ist, kannst du es ja auch einfach bleiben lassen.
Es sind also individuelle Lebensentscheidungen, die zu Spannungen in der Bevölkerung führen?
Ich glaube, ja. Es sind unterschiedliche, komplexe Emotionen, die zu einer bestimmten Stimmung führen, die sich auf das Gegenüber überträgt. Es gibt sicherlich Menschen, die die Stimmung, die ich verbreite, nervend, unangenehm oder aufdringlich finden. Wenn solche Situationen gehäuft auftreten, führt das allmählich zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft.
Setzen Sie sich mit dieser Problematik auch in Ihrer Arbeit auseinander?
Ja. Mein Stück „Ground and Floor“ basiert auf der Idee, dass die Interessen der Lebenden und die der Toten miteinander in Konflikt geraten sind. Dieser Gedanke kam mir, als ich davon hörte, dass mehrere Menschen immer noch in der Evakuierungszone von Fukushima leben, weil sie sich sagen: „Ich muss in der Nähe der Gräber meiner Ahnen sein und sie beschützen.“ Das hat mich unheimlich aufgewühlt. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Mir war nur eins klar: dass ich eine Person, die so denkt und handelt, nicht verurteilen kann. Und es stellte sich mir die Frage: Ist es in Ordnung, die Interessen und den Willen der Toten einfach zu ignorieren.
Hat die Katastrophe von Fukushima das japanische Theater politischer gemacht?
Die Frage, ob Theater gesellschaftlich relevant sein soll, ist bei mir erst aufgekommen, als ich mehr und mehr Gelegenheit hatte, meine Stücke in Europa vorzustellen. In der japanischen Theaterwelt spielt das keine große Rolle. Kunst, die von vornherein versucht, gesellschaftlich relevant zu sein, kann man zu Recht idiotisch finden. Aber man muss mit der Möglichkeit rechnen, dass über das eigene künstlerische Ziel hinaus gesellschaftliche Relevanz entsteht.
In den Berichten ausländischer Medien über das Desaster von Fukushima wurde immer die scheinbare Gelassenheit der Japaner betont. In Ihrem Stück scheinen eher Apathie und Verdrängungswille zu herrschen ...
Viele Menschen haben sich damals tatsächlich eher ruhig gegeben. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass man, wenn man seine Gefühle nach außen trägt, auch Konsequenzen ziehen und die eigene Situation verändern muss. Dafür muss man aber einen hohen Preis zahlen und große Anstrengungen auf sich nehmen. Es bedeutet, die gewohnte Umgebung, Freunde und seine Arbeit aufgeben zu müssen.
Das Interview führten Stephanie Kirchner und Yannick Mäntele
Dolmetscherin: Masayo Kajimura