Auf der Suche nach den Itelmenen
Wieso die indigenen Völker des Nordens zusammenhalten müssen
Mein Volk verliert seine Sprache und das macht mich sehr traurig. Meine Vorfahren, die Itelmenen, sind Ureinwohner Kamtschatkas. Seitdem die Russen Ende des 17. Jahrhunderts die Halbinsel besiedelt haben, ist unsere Kultur zurückgedrängt worden. Besonders die stalinistischen Repressionen und die Zwangskollektivierung im 20. Jahrhundert waren schlimm für uns. Itelmenisch, unsere Sprache, wurde damals verboten und viele Familienoberhäupter erschossen. Auch meine Großeltern waren unter den Opfern. Heute leben nur noch knapp tausend Itelmenen auf Kamtschatka und weniger als zwanzig von ihnen beherrschen die Sprache fließend. Ich kämpfe dafür, dass unsere Kultur nicht völlig in Vergessenheit gerät.
Ich wurde 1942 in dem kleinen itelmenischen Dorf Utcholok an der nördlichen Küste Kamtschatkas geboren. Bei uns gab es noch keine Elektrizität und die Dorfbewohner lebten größtenteils vom Fischfang und der Rentierzucht. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an diese Zeit. Meine Mutter nannte mich: „Uljaljach Latschach“, auf Deutsch „kleine Sonne“. Aber dann begann die Zwangszusammenlegung der Dörfer und viele Familien wurden bedroht. Wir mussten in die Hauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski fliehen. Dort bin ich groß geworden. Alle um mich herum sprachen nur noch Russisch. Nur meine Mutter sang mir abends itelmenische Volkslieder vor und erzählte alte Märchen. Sie kannte jedes einzelne Kraut auf Kamtschatka und wusste alles über den Fischfang. Manchmal zog sie ihre traditionelle Tracht an und tanzte auf öffentlichen Plätzen. Als Jugendliche und Komsomolsk-Pionierin war mir das schrecklich peinlich.
Ich wurde trotz meiner Herkunft zum Philosophiestudium in Moskau zugelassen. Es war etwas Besonderes für eine Itelmenin an der Lomonossow-Universität zu studieren. Kamtschatka war damals militärisches Sperrgebiet und Moskau war für mich die große weite Welt. Hier habe ich Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern kennengelernt. Das hat mir die Augen geöffnet und ich erkannte, dass man jede einzelne Kultur wertschätzen muss. Endlich verstand ich meine Mutter: Man darf seinen kulturellen Ursprung nicht vergessen. Ich beschloss, mich dem Studium der Nordischen Völker zu widmen und ging zurück in meine Heimat.
Als Kamtschatka 1990 wieder für Touristen zugänglich war, machte sich ein Anthropologe aus Alaska auf die Suche nach den Itelmenen. Seine Kollegen hatten ihn ausgelacht und waren überzeugt, er würde keinen einzigen finden. Aber er fand mich. Gemeinsam machten wir eine achttägige Wanderung quer durch Kamtschatka. Später bin ich nach Alaska gereist. Dort habe ich Angehörige der Yupik und der Tlingit, der indigenen Völker Alaskas, kennengelernt. Wir haben zusammen getanzt und musiziert. Wir sind uns sehr nahe, denn uns verbindet dieselbe Sorge: der Wechsel der Generationen. Für sie wie für uns gilt es, einen Weg zu finden, wie wir unsere kulturelle Vielfalt im modernen Zeitalter waren können.
Hierfür haben wir ein gemeinsames Projekt gestartet, bei dem wir die heutigen Lebensbedingungen der indigenen Völker auf Alaska und Kamtschatka untersuchen. Auch wenn das Aussterben einer Kultur auf lokaler Ebene geschieht, muss man dieses Thema im globalen Kontext behandeln. Darum reise ich um die ganze Welt. Einmal habe ich sogar in Genf vor der UNO gesprochen. Am wichtigsten ist mir aber, die Jüngeren zu motivieren, zu ihren Wurzeln zurückzufinden. Wir haben Kinderbücher auf Itelmenisch entwickelt, geben Sprachunterricht und archivieren Tonaufnahmen. Besonders stolz macht mich, dass meine Enkeltochter in meine Fußstapfen getreten ist. Heute zieht sie als Forscherin um die Welt. Das gibt mir Hoffnung.
Protokolliert von Maria Galland