Wie schauen wir die Welt an?
Die reisende Reporterin Charlotte Wiedemann hat ein gutes, streitbares Buch über Auslandskorrespondenten geschrieben
Kann eine Journalistin wirklich so unnahbar sein, wie Charlotte Wiedemann es bei ihren Kolleginnen im Ausland wahrnimmt?„Journalistinnen, die im Ausland unterwegs sind, ziehen oft eine Aura geschlechtlicher Neutralität um sich herum – als Schutz“, schreibt sie, die selbst viel im Ausland als Journalistin unterwegs ist, in ihrem neuen Buch. Und gesteht dann doch ihre Faszination für einen kambodschanischen Übersetzer ein, der „morgens um sieben (…) strahlte (…) wie von innen erleuchtet“. Das sind die kleinen Geheimnisse, von denen sonst kein Leser erfährt, die uns Wiedemann in ihrem journalistischen Werkstatt-Bericht „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben“ verrät. Es ist ein Buch vom Reporterleben in der weiten Welt, das viele seltene Einblicke in das oft primitive Journalistenhandwerk im Ausland gewährt. Ich kenne das Handwerk, habe es vor 25 Jahren selbst gewählt. Und in vielem, was Charlotte Wiedemann schreibt, begegne ich mir selbst.
Dolmetscher zum Beispiel sind unsere „verschwiegenen Helfer“. Ohne sie ist unsere Arbeit undenkbar. Denn sie sind viel mehr als Übersetzer. Sie entziffern den Alltag für uns, wie Wiedemann schreibt. „Was ist arm? Woran erkennt man unter den Armen den Besserverdienenden?“ Richtig, all das und noch viel mehr erklären gute Dolmetscher. Aber ist der Auslandsreporter, der vieles nicht weiß, deshalb gleich ein Trampeltier? Oder soll er sich als solches outen, indem er seine Helfer nicht verschweigt, die ihn vor Fettnäpfchen und Fallgruben schützen?
„Wir sind Blinde, sobald wie unseren vertrauten Kulturkreis verlassen“, schreibt Wiedemann. An dieser Stelle übertreibt ihr Buch. Man muss nicht immer Kulturkenner sein, um zu sehen und zu begreifen, was sich in einer anderen Kultur tut. Ungerechtigkeit ist oft auf den ersten Blick erkennbar. Berichte von den Hungersnöten im Sudan machen auch dann Sinn, wenn sie nicht die lokale Kultur erklären. Es ist oft einfach wichtig, vor Ort zu sein, eine Sache der Welt vor Augen zu führen, damit sie überhaupt reagieren kann.
Wiedemanns Versuch, nicht weiß zu schreiben, lässt sich – neben den vielen, wertvollen Anekdoten von ihren Reporterreisen nach Asien und Afrika – ganz nebenbei auch als Beschimpfung meines Metiers lesen. Es gäbe ja einige gute Kollegen, schreibt sie, aber: „Im Großen und Ganzen gilt: Wie das diplomatische Korps die politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands vertritt, so sind die Korrespondenten das Korps zur Verteidigung unserer Weltanschauung.“ Natürlich muss ich da widersprechen.
Wiedemann selbst reist ins Ausland und lebt in Deutschland. Sie ist nicht Auslandskorrespondentin, sondern Sonderkorrespondentin. Offenbar hat sie bei ihren Besuchen den Eindruck gewonnen, dass vor Ort lebende Korrespondenten ihre Arbeit nicht machen. Ich will gar nicht verschweigen: Auch ich habe im Ausland oft im Clinch mit den Kollegen gelegen. In China war mir beispielsweise die Kritik vieler Korrespondenten am kommunistischen Regime zu oberflächlich und ungenau. Sie sahen nicht – Wiedemann würde sagen, weil sie unsere Weltanschauung verteidigen mussten –, was die KP Chinas gut und richtig machte, wo sie ihren Bürgern tatsächlich diente und sie nicht nur tyrannisierte. Doch deshalb hätte ich den Kollegen nie vorgeworfen, im Korps zu funktionieren. Ich sah zum Beispiel viele Fernsehreporter in China, die sich abrackerten, um das riesige Land auch in seinen hintersten Winkeln noch auszuleuchten.
Jenseits dieser untauglichen Verallgemeinerungen ist Wiedemanns Buch eine wahre Schatzkammer professionellen Handwerkszeugs für den Auslandsreporter. Denn die Autorin benennt die vielen kleinen Kniffe und Tricks, die ich mir im Laufe der Jahre oft nur unbewusst oder zufällig angeeignet habe, die mir aber heute die Arbeit ungeheuer erleichtern. Zum Beispiel ihre Vorliebe für öffentliche Verkehrsmittel: „Da hat man reichlich Gelegenheit, Verhalten zu studieren, das eigene wie das der anderen.“ Wiedemann lehrt: Der schnellste Weg führt gerade als Auslandsreporter selten zum Ziel. Überzeugend schildert sie, wie sich der Reporter der im fernen Ausland nicht seltenen Verführung entzieht, Dichtung und Wahrheit zu vermischen: indem er sich einfach „ein bisschen mehr anstrengt“ und schlicht bei der Wahrheit bleibt.
Das Beste bewahrt sich Wiedemann für den Schluss auf: Sie ist nämlich doch nicht geschlechtlich neutral und verliebt sich auf einer ihrer Reisen in einen Gewerkschaftsführer aus Mali. Mit entlarvender Sensibilität erzählt sie, wie unmöglich es ihr ist, dessen Realität in deutschen Medien darzustellen und westlichen Lesern zu vermitteln. Für die Art und Weise, wie sie anhand ihrer Erfahrungen in Mali den journalistischen Umgang mit Demokratie kritisiert, gebührt ihr Respekt. So viel Mut ist in der deutschen Presselandschaft selten.
Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt. Von Charlotte Wiedemann. PapyRossa Verlag, Köln 2012.