„Jeder ist der andere“
Der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller über große Städte, Politik und Moral
Herr Cole, der Titel Ihres ersten Romans hat eine doppelte Bedeutung. „Open City“ steht zum einen für die politisch, ethnisch und kulturell wuchernde Vielfalt von New York. Zum anderen bezieht er sich auf den kriegsrechtlichen Status einer unbefestigten Stadt. In welchen Krieg sehen Sie New York verstrickt?
„Open City“ ist in vieler Hinsicht ein Roman in den Nachwehen von 9/11. Über Jahre hatte man das Gefühl, dass New York von allen möglichen Kräften belagert wurde: körperlich, geistig und seelisch – nur nicht von al-Qaida. Die juristische Idee einer unverteidigten Stadt, die nicht von fremden Truppen angegriffen werden darf, gefällt mir auch vor diesem Hintergrund – neben dem Weltoffenen und Offenherzigen einer Metropole, in der jeder er selbst sein darf.
Sie betrachten New York als Palimpsest, an dessen Oberfläche man nur kratzen muss, um die tieferen Schichten zu entdecken.
Mich beschäftigt vor allem: Wessen Tod zählt? Wessen Tod ist berichtenswert? Nach den Attacken auf das World Trade Center hieß es immer: So etwas ist hier noch nie passiert. Aber was würden, wenn sie es denn könnten, die ermordeten schwarzen Sklaven dazu sagen oder die Indianer? In unseren Medien ist immer wieder von „American deaths“ die Rede, als hätten diese nationalen Todesfälle eine andere Substanz als alle übrigen. Als ich erfuhr, dass der US-Botschafter Christopher Stevens im libyschen Bengasi zusammen mit dreien seiner Leute ermordet wurde, war ich bestürzt. Gleichzeitig sollen beim Versuch, den Sturm aufs Konsulat zu verhindern, zehn Libyer umgekommen sein. In den Nachrichten wurden sie nicht erwähnt. Warum bilden wir uns ein, dass manche Tode mehr wiegen als andere? Das ist eine Obszönität, von der wir uns alle einlullen lassen.
Diese verquere Art, das Eigene und das andere zu trennen, scheint seit jeher verlockend zu sein. In einem Essay haben Sie kürzlich Joseph Conrads Kongo-Erzählung „Herz der Finsternis“ dafür gerühmt, zwei Fragen exemplarisch untersucht zu haben: „Was heißt es, über andere zu schreiben? Und wer sind diese anderen?” Als Gewissensfragen an unsere postkolonialen weißen Seelen leuchtet mir das ein. Aber wer sind die anderen und das andere für Sie?
Egal, wie nahe einem eine andere Person steht: Wer von ihr behauptet, sie sei wie man selbst, tut ihr Gewalt an und kolonisiert sie. Also ist jeder der andere. Dieses andere auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht und Nationalität zu definieren, ist allerdings problematisch.
Sie schreiben gerade an einem Buch über Lagos. Ist dieser nigerianische Zehn-Millionen-Moloch für Sie auch eine offene Stadt?
Lagos gehört nicht dem Volk der Yoruba, es ist kosmopolitisch. Es ist die Stadt, in die jeder drängt und seine Träume investiert. Zugleich ist es ein Ort voller böser Gespenster. Lagos ist ja nicht nur die größte Stadt Schwarzafrikas, sie ist bis in die Karibikregion hinein auch der bei Weitem stärkste Bevölkerungsmagnet. Wir haben außerdem jede Menge Chinesen und wir haben Amerikaner und Europäer, die hier Geschäfte machen.
Offenheit liegt Ihnen auch formal am Herzen. Sie bewundern V. S. Naipauls halb autobiografische Einwanderungsmeditation „Das Rätsel der Ankunft“, die jeden greifbaren Plot mit höchster Eleganz hinter sich lässt. Und sie könnten problemlos W. G. Sebald zustimmen, der für Sie auch eine wichtige Rolle spielt: „Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.“ Was hat Ihr Misstrauen in den nach wie vor massenhaft hergestellten, künstlerisch aber ausgebluteten Roman nach den Mustern des 19. Jahrhunderts ausgelöst?
Der Roman ist für mich eine lange Form der Prosa mit einem Element der Fantasie. Die uns vertraute Form hat sich im 16. Jahrhundert bei Miguel de Cervantes und François Rabelais herausgebildet. Aber das Verblüffende ist, wie viele verschiedene erzählerische Gesten schon Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel“ enthält: lange essayistische Passagen, Listen, Satirisches, Tragödienhaftes. Im 19. Jahrhundert waren die Möglichkeiten dann domestiziert. Und obwohl James Joyce und Virginia Woolf das unbotmäßige Benehmen der Gattung wiederentdeckten, folgt die Mehrzahl der Romane heute festen Konventionen. Ich wollte einen modernistischen und doch nicht experimentellen Roman schreiben, der unserem heutigen Bewusstsein in all seiner Zersplitterung gerecht wird: in Lesefrüchten, musikalischen Eindrücken, aufgeschnappten Gesprächen oder Galeriebesuchen.
Der Protagonist von „Open City“, der angehende Psychiater Julius, vermittelt den Eindruck, dass er jeder Ungerechtigkeit dieser Welt Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Vom Holocaust bis zur Palästinenserfrage handelt er jeden Konflikt ab. Anders als die Leute, denen er begegnet, tut er so, als könnte er über allen Dingen schweben: Er bezieht nie wirklich Stellung. Haben Sie ihm deshalb mit einem kapitalen moralischen Fehler Erdenschwere verliehen?
Nun, Julius würde sich sicher auch für Feminismus, Schwulenrechte oder den Sozialstaat aussprechen. Was er ablehnt, ist die Eindeutigkeit, mit der oftmals erklärt wird, dass eine Nation eine andere unterdrückt und deshalb böse ist. Er stellt Gewissheit als politischen Modus infrage. Und was seinen Sündenfall betrifft, den wir hier nicht verraten wollen: Jeder hat seine Fehler. Ich spreche davon nicht in jenem Sinn, in dem man von einem Politiker sagt: Oh, der hat eine Leiche im Keller, weil er in Albanien eine Frau und vier Kinder sitzen hat lassen. Ich spreche von Fehlern, die ein Teil von uns sind, die wir aber vor uns selbst und anderen geheim halten. Insbesondere Linke reden in einer Sprache über Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, die sich viele von uns zu eigen machen. Sie haben eine ganz genaue Vorstellung davon, was es heißt, auf der richtigen Seite zu stehen, und davon, wo die Übersehenen und Benachteiligten zu finden sind. Doch all das bewahrt uns nicht vor schweren Fehlern. Für mich bleibt es ein Rätsel, dass Menschen, die politisch unhaltbare Ansichten vertreten, die besseren Menschen sein können.
Julius kommt mir vor wie jemand, dem Michel Foucault die Sehnsucht nach einer von allen Herrschaftsmechanismen befreiten Welt eingepflanzt hat.
Ich bin nicht so sicher, ob Foucault die Welt von allen Herrschaftsstrukturen befreien wollte. Er wollte uns nur auffordern: Versteht, wie Macht funktioniert, und hört auf zu leugnen, dass sie in allen Verhältnissen gegenwärtig ist. In der US-Politik wird dauernd die Demokratie beschworen, aber wir wissen, dass diese Demokratie von Geld angetrieben wird. Dauernd heißt es, wir seien alle gleich, was natürlich nicht stimmt. Oder wie stumpfsinnig wiederholen wir, dass wir dem Nahen Osten Frieden bringen wollen, als könnte man einfach jemandem Frieden bringen. Das Gefährliche an Macht ist das Uneingestandene.
Im „ New Yorker“ haben Sie einmal bekannt, dass V. S. Naipaul Sie als Mensch enttäuscht habe. Es ist eine uralte Frage, die wir dennoch nicht loswerden: In welchem Maß muss ein Schriftsteller als Person den moralischen Standards gerecht werden, die er in seinen Werken vermittelt?
In gar keinem.
Warum waren Sie dann von Naipaul enttäuscht?
Wir können beklagen, dass er sich schlecht benimmt und in Zeitungen empörende Dinge sagt. Ich muss ihn auch nicht mögen. Aber ich kann meine moralischen Ansprüche nicht einfach auf ihn übertragen. Aus der Entfernung sind wir ohnehin tolerant: Oh ja, er ist ein Arschloch, aber auch ein großer Künstler. Wir stellen Künstler auf ein Podest, und wenn wir bei ihnen dann einen Mangel an Perfektion entdecken, sind wir enttäuscht. Zugleich entlasten wir damit uns selbst, weil wiederum unser Mangel an Ruhm uns zu so wenig zu verpflichten scheint. Was mich bei Naipaul aber frappiert hat: Da haben wir diesen großen Autor, der zugleich ein Rassist und Frauenhasser ist. Doch weil er schon so alt ist und man ihn beim Gehen stützen muss, vergisst man glatt, dass er ein Rassist und Frauenhasser ist.
Ein Letztes. Es gibt zwei einander widersprechende Binsenweisheiten. Die erste lautet: Menschen sind überall gleich. Und die zweite: Gehen Sie nur mal ins nächste Dorf und sehen Sie, wie verschieden sie sind. Welche Erfahrung haben Sie gemacht?
Ich glaube, dass ich mich da gar nicht entscheiden muss. Meiner Überzeugung nach trifft eine Binsenweisheit nur dann zu, wenn auch ihr Gegenteil zutrifft.
Das Interview führte Gregor Dotzauer. Es basiert auf einem öffentlichen Gespräch beim Internationalen Literaturfestival Berlin 2012