Gefangen auf Dejima
Kampf der Kulturen im ausgehenden 18. Jahrhundert: David Mitchell erzählt, wie sich Niederländer und Japaner in der Bucht von Nagasaki begegneten
Dejima ist dieser fantastische Ort eine literarische Erfindung oder gab es ihn tatsächlich? Vor 200 Jahren war Dejima eine winzige künstliche Insel im Hafen der japanischen Stadt Nagasaki, ein Handelsposten, die äußerste Außenstation der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Und Dejima ist auch der originelle Schauplatz, den sich der britische Autor David Mitchell für seinen jüngsten Roman ausgesucht hat. Mitchell, der sich mit seinem kürzlich verfilmten Weltbestseller „Der Wolkenatlas“ (2004) einen Ruf als brillanter postmoderner Formspieler erschrieben hat, legt diesmal einen auf den ersten Blick konventionellen Historienschmöker vor, „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, mit einer transkulturellen Liebesgeschichte im Zentrum, der unglücklichen Liebe eines Niederländers zu einer Japanerin. Doch rasch wird klar, dass dieser Romanschauplatz ein Glücksgriff ist. Nirgends ließe sich Mitchells Thema, der Konflikt zwischen verschiedenen Kulturkreisen, überzeugender veranschaulichen als auf diesem Inselchen.
Denn Dejima war der einzige, streng kontrollierte Zugang des Westens, den das feudale Japan, das „Land der tausend Herbste“, offen ließ, nachdem die Christen im Lande getötet und die Europäer vertrieben worden waren. Zwei Jahrhunderte lang hat sich das Tokugawa-Shogunat gegen Kontakte mit der Außenwelt fast völlig abgeschottet. Kein Japaner durfte bei Todesstrafe die Inseln verlassen, kein Ausländer den heiligen Boden Japans betreten. Dejima war der einzige Ort, an dem in der xenophoben Edo-Epoche ein Kultur-, Handels- und Warenaustausch mit dem Westen geduldet wurde. Die Faktorei war zugleich Fenster zum Westen und streng bewachtes Gefängnis für die niederländischen Handels- und Seeleute, denen das Betreten des Festlandes über die einzige Inselbrücke nur in Ausnahmefällen gestattet war. Die Niederländer wurden de facto als Handels-Geiseln gehalten.
Die Faktorei-Insel funktionierte wie ein Durchlauferhitzer für Ideen in beiden Richtungen. Sie eröffnet David Mitchell die Chance, sein Thema der Begegnung zweier fremder Zivilisationen am his-torischen Beispiel zu demonstrieren. Dejima ist seine Bühne für einen Ideenroman über den kulturellen Wandel im Zeitalter des Kolonialismus und über den Austausch des Westens mit einem Land, das sich der Kolonisierung erfolgreich widersetzte. Japan hat es verstanden, sich westlicher Übergriffe samt Christianisierung zu erwehren, wollte und konnte sich aber modernen westlichen Errungenschaften nicht gänzlich verschließen. Im Grunde erstrebte Japan das Unmögliche: die Übernahme westlicher Technologien ohne das Einsickern westlicher Ideen.
Und keine westliche Idee war in den Jahren 1799/1800, der Zeit in der der Roman spielt, mächtiger als die Aufklärung. Mitchells Personal sind Kaufleute, Faktorei-Angestellte, Sklaven, Spione und japanische Dolmetscher, Konkubinen und Wächter. Der holländische Arzt auf der Insel, Dr. Marinus, spielt als Aufklärer und neugieriger Erforscher Japans eine wichtige Vermittlerrolle. Er darf einige japanische Famuli in westlicher Medizin ausbilden, darunter die Samurai-Tochter Orito, eine begnadete junge Hebamme. Diese hat, unterstützt von einem westlichen Geburtshilfelehrbuch, der Konkubine des Statthalters von Nagasaki bei einer schweren Geburt beigestanden und ihr und dem Kind das Leben gerettet. Zum Dank erlaubt ihr der Statthalter das Medizinstudium auf Dejima.
Mitchells Held ist der junge Sekretär Jacob de Zoet, der im Dienste der niederländischen Ostindien-Handelskompanie auf Dejima Karriere machen und reich werden möchte, damit er nach seiner Rückkehr seine holländische Braut heiraten kann. Doch Jacob widerfahren in der Fremde aufwühlende Begegnungen, nicht zuletzt verliebt er sich in die japanische Hebamme Orito. Eine einseitige Liebe, die nicht erwidert wird. Er wird mit unerwarteten Ereignissen konfrontiert und charakterlich geprüft. Vor allem stößt er in der Faktorei auf ein alles imprägnierendes System der Korruption, des Betrugs, der Unterschlagungen und der Selbstbereicherung. Er muss erkennen, dass die Handelsleute und Faktorei-Mitarbeiter allesamt gierige und skrupellose Halunken sind, der Abschaum der Kompanie. Jacob selbst bleibt als Einziger ehrlich, macht sich aber in seinem beharrlichen Antikorruptionskampf alle zu Feinden, wird ausgetrickst, gemobbt und isoliert und kann seine Fair-Trade-Standards erst Jahre später durchsetzen, als er nach einer bestandenen Mutprobe selbst zum Faktor von Dejima aufsteigt.
Im Hintergrund des Romans gewittert die Geopolitik. Die Umwälzungen im napoleonischen Europa beeinflussen auch die politische Balance im weltfernen Japan. Die niederländische Kompanie ist so gut wie bank-rott, Dejima ist kaum mehr zu halten, die kommende Weltmacht England versucht mit einem Trick das holländische Handelsmonopol mit Japan zu brechen. Mitchell baut hier den tatsächlichen „Phaeton“-Zwischenfall von 1808, als eine englische Fregatte in den Hafen von Nagasaki eindrang, in seinen Roman ein, allerdings um acht Jahre vorverlegt.
Als Erzähler des psychosozialen Aggregats auf Dejima, dem kleinen Gefängnis innerhalb des großen Gefängnisses Japan, leistet Mitchell Großartiges. Subtil nuanciert lesen sich die korrupten Winkelzüge der Inselinsassen, ihre abgefeimten Verrätereien und überraschenden Seitenwechsel vor dem Hintergrund der in höfischen Zeremonien rituell erstarrten Herrschaft des japanischen Statthalters. Die wichtigsten, mächtigsten und auch eigenwilligsten Kulturvermittler sind die japanischen Dolmetscher, eine ebenso privilegierte wie gefährdete Zunft, die stets auf dem schmalen Grat zwischen Bespitzelung und Fraternisierung balanciert und nebstbei emsig die neuesten Ideen aus Europa aufsaugt. Alle Verständigung zwischen West und Ost läuft einzig über die Dolmetscher. Dass Kulturvermittlung vor allem über die sprachliche Vermittlung funktioniert – samt allen Missverständnissen und Fehldeutungen infolge falscher Übersetzungen –, zeigt Mitchell auf höchst unterhaltsame Weise.
Allerdings ist der Roman eben auch eine Liebesgeschichte. Jacobs angebetete Orito ist die Heldin des mittleren Kapitels des Romans, das stilistisch völlig aus dem Kontext der dokumentarisch plausiblen Historie herausfällt und die Roman-Architektur beinahe zum Einsturz bringt. Auf Veranlassung eines dämonischen Erz-Bösewichts, der in einem entlegenen Schrein im Landesinneren einen mörderischen Kult betreibt, wird die junge Frau entführt und in den Nonnendienst gezwungen. Sie entdeckt das verbrecherische Geheimnis des Schreins, das irgendetwas mit der Gier nach Unsterblichkeit mittels gezüchteter und geopferter Babys zu tun hat, und wird zuletzt auf abenteuerliche Weise gerettet, auch mithilfe des selbstlos liebenden Jacob.
David Mitchell arbeitet hier plötzlich mit plumpen Thriller- und Horror-Effekten und dieses Kapitel liest sich wie ein Mix aus Gothic-Horror-Story, Umberto Eco und einer Menschenzucht-Fantasie à la Margaret Atwood. Innerhalb des raffiniert austarierten Machtspiels von kulturellem Austausch, Abwehr und Täuschung in der Faktorei Dejima bleiben diese 200 Seiten kruder Fantasy ein ärgerlicher Fremdkörper, können aber Mitchells hohe Kunstfertigkeit, die er im übrigen Roman an den Tag legt, nicht ernsthaft beschädigen.
Mitchell erzählt seinen historischen Schmöker durchgehend im Präsens. Das macht den Duktus schlank und muskulös, verleiht dem Roman spannende Gegenwärtigkeit und zieht den Leser unmittelbar hinein in seine 200 Jahre alten Vorgänge. In seinem fünften Roman hat David Mitchell das große Thema des „Clash of Civilizations“ jedenfalls auf kühne, originelle und meisterliche Art durchgespielt.
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet. Von David Mitchell. Rowohlt Verlag, Reinbek, 2012.