Fünf Freunde
Wie die BRICS-Staaten die Weltwirtschaft verändern
2001 prophezeite Jim O’Neill, Chefvolkswirt bei Goldman-Sachs, vier Ländern hohe Wachstumsraten, Brasilien, Russland, Indien und China, und fasste sie in einem Bericht mit dem Titel „Building Better Global Economics BRICS“ zum ersten Mal unter dem Akronym BRICS zusammen. Der Text des Analysten einer der größten Investmentbanken wurde zur Initialzündung für die BRICS-Gruppe: Seitdem bemühen sich diese vier Länder darum, ihre Beziehungen zu vertiefen, um so ihren Einfluss auf dem internationalen Parkett auszuweiten. Doch was eint diese kulturell und politisch so unterschiedlichen Länder?
Eine Antwort auf diese Frage findet sich in dem Bericht selbst: Im Wesentlichen zeichnen sich die vier Länder durch erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung und ein hohes Wachstum aus, wodurch sie als Absatzmärkte, aber auch für Investitionen attraktiv werden. Das Akronym BRICS ist somit geschaffen worden, um die Aufmerksamkeit von Investoren weltweit auf die Geschäftsmöglichkeiten in diesen bis dahin peripheren Regionen zu lenken. Durch das Aufkommen neuer Investitionsräume entsteht ein Szenario, in dem traditionelle Wirtschaftsmächte wie die G7-Gruppe mit aufstrebenden Mächten wie Brasilien, Russland, Indien und China sowie Südafrika in Wettbewerb geraten.
Die BRICS entstehen also als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung – gegründet auf den Befund, dass das beträchtliche Wirtschaftswachstum dieser fünf Länder (Südafrika trat der Gruppe 2011 bei) den Anbruch einer Expansionsphase der Weltwirtschaft darstellt, in der sich neue Akteure unter die größten und wichtigsten Wirtschaften des Planeten mischen. BRICS wird also auch zum Symbol für eine neue Weltwirtschaftsordnung, in der die Vorherrschaft der klassischen Industrieländer abnimmt.
Brasilien entspricht genau wie die anderen BRICS-Staaten den Vorhersagen von Jim O’Neill, denn es kann in seiner jüngsten Vergangenheit auf eine ganze Reihe gelungener Entwicklungen verweisen. In der letzten Dekade stieg sein Bruttoinlandsprodukt (BIP) um rund 42 Prozent. Dieses atemberaubende Wachstum der brasilianischen Wirtschaft basiert auf einer doppelten Entwicklungsstrategie: Zum einen versuchen die brasilianischen Regierungen seit Mitte der 1990er-Jahre, das Land für neues Kapital attraktiv zu machen; zum anderen fördern sie die soziale Mobilität der Bevölkerung.
Um neues Kapital anzuziehen, hat die öffentliche Hand Prozesse der rechtlichen und infrastrukturellen Neuordnung eingeleitet: Diese sollen günstige Bedingungen für Investitionen und Geschäfte schaffen. In den Städten wird dies zum Beispiel durch eine Politik des Stadtmarketings und der Förderung von Großveranstaltungen umgesetzt: Das Stadtmarketing soll die Städte in Verkaufsgebiete mit zahlreichen Geschäftsoptionen verwandeln. Gleichzeitig erfordert das Ausrichten von Veranstaltungen wie den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro oder der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2014 Investitionsniveaus, welche die brasilianischen Wirtschaftskapazitäten übersteigen und wiederum ausländischen Geldgebern Gewinne versprechen.
In Rio de Janeiro haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Stadtregierungen um Investitionen bemüht – derzeit vor allem mithilfe einer gigantischen Umgestaltung des städtischen Raums. Ganze Bevölkerungsgruppen werden von ihren traditionellen Wohnorten weg an den Stadtrand umgesiedelt, um große Gebiete für neue Investitionen frei zu machen. Ein Beispiel dafür ist das Hafenviertel, eine der Hauptzonen der Stadt, in denen die Olympischen Spiele 2016 durchgeführt werden.
Gleichzeitig will die brasilianische Regierung die Aufstiegschancen der Bürger erhöhen. Dieser Prozess manifestiert sich in der Expansion einer neuen Mittelschicht, der sogenannten „C-Klasse“. Laut Definition der Getúlio-Vargas-Stiftung gehören zur „C-Klasse“ Familien mit einem Monatseinkommen von zwischen 1.115 und 4.807 Real (das sind rund 414 bis 1.784 Euro). (Zur B- und A-Klasse gehören Familien mit einem Monatseinkommen von über 4.807 Real (1.784 Euro), zur D- und E-Klasse Familien mit einem Monatseinkommen von unter 1.115 Real (rund 414 Euro) beziehungsweise unter 804 Real (rund 324 Euro).
Im Jahr 2003 machten Familien der „C-Klasse“ 37,56 Prozent der Bevölkerung aus, 2008 jedoch bereits 49,22 Prozent der Bevölkerung, das sind insgesamt 91 Millionen Menschen. Dies bedeutet, dass innerhalb von fünf Jahren 29,5 Millionen Brasilianer in diese neue Mittelschicht Eingang gefunden und ihre Kaufkraft erhöht haben.
Die „C-Klasse“, die neue Mittelschicht, spielt eine wesentliche Rolle, um die Entwicklung der Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Menschen mit geringer Kaufkraft erhalten heute in Brasilien leichter und flexibler Kredite als früher, was es ihnen ermöglicht, neue Güter und Waren zu erwerben und so die Flamme des internen Konsummarkts am Leben zu erhalten.
Bei den beiden Strategien, der Anziehung neuen Kapitals und der Förderung sozialer Mobilität, haben wir es mit den zwei Seiten derselben Medaille zu tun. Einerseits wird das Terrain neu geordnet, um es für in- und ausländische Investitionen attraktiv zu machen. Andererseits stellen öffentliche wie private Banken Kredite zur Verfügung, die einer neuen Bevölkerungsgruppe eine erhebliche Steigerung der Kaufkraft ermöglichen. Aber noch mehr machen die beiden Prozesse Brasilien zu einer lebendigen Metapher sozialer Mobilität.
Die staatliche Entwicklungspolitik versteht die Brasilianer bislang in erster Linie als Konsumenten. Vor diesem Hintergrund fördert Brasilien die Entwicklung einer sozialen Mobilität über den Markt beziehungsweise über die Existenz eines aufgeheizten Konsummarkts, der für die Bevölkerung die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs bereithält. Aufstieg und soziale Mobilität im Brasilien der BRICS bedeuten deshalb nicht notwendigerweise, dass die Rechte bislang marginalisierter, ärmerer Bevölkerungsgruppen umfassend gestärkt werden. Sie bedeuten die Stärkung ihrer Rechte als Konsumenten. In Brasilien sind also Aufstieg und soziale Mobilität letzten Endes Synonyme für neue Geschäftsmöglichkeiten.
Aus dem Portugiesischen von Niki Graça