Die Entdeckung der Freiheit

Warum totalitäre Systeme beim Aufbau eines modernen Staats in der arabischen Welt versagten

Bei dem Versuch, moderne Staaten hervorzubringen, haben sich totalitäre Systeme der arabischen Welt zum Teil auf Ideen und Konzepte aus dem Westen bezogen. Diese gerieten aber häufig  in Konflikt mit der arabischen Realität, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

Das Zeitalter der arabischen Nahda, einer Bewegung, die seit dem 19. Jahrhundert die Grundwerte des Islams mit der Moderne zu vereinbaren suchte, brachte in der arabischen Welt zwei Modelle der Staatsgründung hervor. Zum einen entstand das säkulare Modell. Dieses bestand aus liberalen, linken und  arabisch-nationalistischen beziehungsweise panarabistischen Strömungen. Von diesen drei Strömungen gelangten allein die Panarabisten an die Macht. Sie vermengten verschiedene Grundsätze und Werte und entlehnten einander widersprechende legislative Grundgedanken aus dem Marxismus, der sozialistischen Ideologie, dem islamischen Erbe und dem europäischen nationalistischen Denken.

Die Panarabisten kamen nicht auf demokratischem Weg an die Regierung, sondern durch Kooperation mit putschenden Militärs, die, einmal an der Macht, ihre militärische und totalitäre Haltung festigten. Das geschah im Irak gleich zwei Mal – 1963 und 1968 –, in Ägypten, als 1952 das monarchische System durch Gamal Abdel Nasser und die Freien Offiziere gestürzt wurde,  und in Syrien durch den Putsch der Baath-Partei 1963. Einige Liberale und Linke verbündeten sich mit dem nationalistischen, totalitären Staatssystem, ohne jedoch entscheidenden Einfluss auf wichtige politische und wirtschaftliche Beschlüsse zu nehmen. Auch auf den innenpolitischen und außenpolitischen legislativen Rahmen nahmen sie keinen Einfluss. Dies war in zahlreichen arabischen Ländern der Fall – in Ägypten, Syrien, Jordanien, Libyen, Marokko, Tunesien, Algerien, im Irak, Libanon, Jemen und Sudan.

Das zweite Modell der Staatsgründung in der arabischen Welt ist ein islamisches. Es wird von salafistischen, fundamentalistischen und gemäßigt islamischen Strömungen vertreten. In einigen Ländern kam es zu Konfrontationen von Salafisten und Fundamentalisten und den Regierungsmächten, die sämtliche islamische Strömungen für revisionistisch hielten. In Ägypten wurden die Muslimbrüder unter Gamal Abdel Nasser und Anwar Sadat unterdrückt. In Syrien wurden sie 1982 in Hama und 30 Jahre später in Homs niedergemetzelt. Die politische und intellektuelle Philosophie der Salafisten basierte darauf, alles unter Bezugnahme auf das islamische Erbe zu beurteilen.

Die Fundamentalisten dagegen vertraten eine radikale und extremistische Einstellung, die Gewalt als probates Mittel zur Verwirklichung ihrer Ziele billigte, und entlehnten ihre Ideen aus der islamischen Vergangenheit. In Ägypten, Saudi-Arabien, im Irak, Libanon und in Syrien näherten sich die Regierungen seit den 1950er-Jahren lediglich gemäßigten islamischen Strömungen an. Dies äußert sich in religiösen Einrichtungen, die in einigen arabischen Ländern mit dem Staat verbunden sind, wie den Dur al-Ifta, den Fatwa-Ämtern, die islamische Rechtsgutachten erstellen. Deren Aufgabe beschränkte sich auf religiöse Angelegenheiten des zivilen Lebens sowie darin, die Legitimität des Staates und des despotischen Herrschers zu bestätigen.

Durch die von den USA beaufsichtigten palästinensisch-israelischen Unterhandlungen kamen die Islamisten im Gazastreifen an die Macht. Die 2006 durchgeführte Wahl war eine Bedingung der Amerikaner und diente der konstitutionellen Legitimierung der palästinensischen Seite. Nach dem Sieg der islamistisch-fundamentalistischen Hamas-Bewegung verhängten Israel und die USA Sanktionen gegen die palästinensische Regierung. Dies und die Streitigkeiten zwischen Hamas und Fatah führte zu ihrem Kollaps. Hamas errichtete im Gazastreifen einen unabhängigen Staat, was dieses Gebiet noch stärker isolierte und anhaltenden israelischen Angriffen aussetzte. Seine zahlreichen innen- und außenpolitischen Probleme hemmten die politische Entwicklung des kleinen Staates.

Im Irak kamen die Islamisten in der Folge der amerikanischen Invasion 2003 an die Macht. Ihre Vertreter gehörten entweder zu schiitischen Parteien, wie der Dawa, oder zu sunnitischen Parteien, zum Beispiel der Islamischen Partei. Ein Konfessionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten brach aus und eine Demokratie der Konfessionen enstand, deren politisches System sich formell an demokratische Regeln hielt, jedoch die konfessionelle Spaltung vorantrieb und Schiiten politische und wirtschaftliche Privilegien gewährte, von denen Sunniten ausgeschlossen waren. Noch heute leidet der Irak unter den Auswirkungen.

In Ägypten und Tunesien gelangten die Islamisten nach den Revolutionen von 2011, die von der breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen wurden, an die Regierung. Nur in diesen beiden Ländern gelang es ihnen, auf legitime Weise, nach einem Volksaufstand und allgemeinen Wahlen, die Macht zu ergreifen, nachdem Mubarak und Ben Ali gestürzt waren. Es ist noch nicht genügend Zeit verstrichen, um das islamistische Experiment in diesen beiden Ländern beurteilen zu können. Die irakische Demokratie der Konfessionen und die radikale Demokratie im Gazastreifen, wo die Hamas-Regierung zwar demokratisch gewählt worden war, jedoch die alleinige Macht und Entscheidungsgewalt innehatte und sich im Kampf gegen ihre Gegner Fatah und Israel weiterhin radikal zeigte, sind aber auf ausländische Einflüsse zurückzuführen.

Man kann also sagen, dass die Geschichte des modernen arabischen Staates – von der Unabhängigkeit von den Kolonialherren über den Zusammenbruch des Staatssystems von Saddam Hussein bis zum Ende der Herrschaft Mubaraks und Ben Alis – säkular geprägt ist, hauptsächlich durch die Panarabisten und zu einem Teil auch durch liberale Aktivisten. Keiner der beiden Gruppen ist es jedoch gelungen, einen Staat mit zivilen Einrichtungen oder einer pluralistischen, parlamentarischen Politik aufzubauen. Auch bei Förderprogrammen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und öffentlicher Dienst haben sowohl Ägypten als auch Irak und Syrien versagt. Sie konnten sich auch nicht von den Mechanismen der internationalen Konsumgesellschaft befreien, indem sie die Erzeugung regionaler Produkte ermöglichten und ausbauten. Sie befreiten weder Wirtschaft noch Handel von der staatlichen Kontrolle.

Im Gegenteil brachte die Regierung Gesschäftsleute dazu, sich auf Nepotismus und politische Loyalitäten einzulassen. Die Lehrpläne der Schulen und Universitäten waren veraltet und man verzichtete auf eine Politik, die Bildung in den Dienst der Industrie und ihrer Entwicklung gestellt hätte. Das Militär blieb mit dem Regierungssystem verbunden und die Armeen waren eher darauf ausgerichtet, Volksaufstände zu unterdrücken, anstatt zum Zweck der Verteidigung gegen ausländische Aggressionen modernisiert zu werden. Trotz des Säkularismus des politischen Systems, versagte dieses beim Versuch, die religiöse Mentalität der Gesellschaft zu entkräften und ein Bewusstsein zu schaffen, das Religion und Staat trennte. Diese Periode seit den 1950er-Jahren war gekennzeichnet von üblem Despotismus, Unterdrückung, Beschneidung der freiheitlichen Rechte und Monopolisierung von Macht und Meinung.

Das panarabistische Denken der nasseristischen Ideologie in Ägypten wie auch der Baath-Partei im Irak und in Syrien vertrat die Idee der Einheit der arabischen Länder, ohne sich dabei die Exis­tenz nicht arabischer Ethnien in der arabischen Welt bewusst zu machen. Der Traum von einer geeinten arabischen Nation, in dem die arabischen Nationalisten den Schlüssel zu einem Sieg über Israel sahen, war zum Scheitern verurteilt. Dies zeigte sich unter anderem durch das Zerbrechen des von 1958 bis 1961 bestehenden ägyptisch-syrischen Einheitsstaats.

Die von den Panarabisten beschworene rassische, kulturelle, sprachliche und religiöse Homogenität beruhte auf romantischen und idealisierenden Vorstellungen, die jedoch nicht der der arabischen Realität entsprachen. Das Resultat war keine Einigung, sondern die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft. Nicht arabische Volksgruppen fürchteten Unterdrückung und Verlust ihrer Identität und strebten nach Unabhängigkeit, was beispielsweise im Fall der Kurden im Irak zu 70 Jahren zermürbender Auseinandersetzungen geführt hat. Die Invasion Kuweits durch Saddam Hussein 1990 spaltete die Panarabisten in zwei Lager. Die einen, darunter König Hussein von Jordanien, der jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh und Palästinenserpräsident Yassir Arafat und der Sudan, waren für die Invasion. Die anderen fanden, sie verletze die Rechte eine Mitgliedstaates der Vereinten Nationen.

Ein weiterer Grund für das Scheitern einer wirklichen arabischen Einheit liegt in der Dialektik des Konzepts der Einheit mit den Ideen von Freiheit und Sozialismus. Letztere blieben inhaltslos und scheiterten an den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen und politischen Sichtweisen der jeweiligen Regime. So starb die Idee der Einheit im selben Moment, in dem die Dialektik von Freiheit und Sozialismus zu greifen begann.

Die Staaten, die eine panarabistische Ideologie vertraten, dazu gehörten Ägypten, der Irak und Syrien, entlehnten aus dem Westen Konzepte wie Demokratie, Freiheit oder Sozialdemokratie, deren Inhalte aber der Realität der arabischen Gesellschaften widersprachen, die voll von Widersprüchen und Streitigkeiten sind. Dies er zeugte einen Riss zwischen der kulturell immer noch religiös geprägten Gesellschaft und dem säkularen politischen System. Die Muslimbrüder in Ägypten, die Nahda-Partei in Tunesien und die Dawa-Partei im Irak propagierten einen „modernen“ Staat, der für eine Gesellschaft eintritt, die die islamische Vergangenheit reproduziert. So wurde die Forderung nach einem modernen Staat eher zum romantischen Schlagwort als zu einer realistischen rationalen Devise, die ein Bewusstsein der historischen Bedingungen für die Errichtung dieses Staatsmodells voraussetzt. Für Kommunisten war Revolution mit der Verwirklichung des modernen Staats verknüpft. Nur eine Revolution kann eine neue Gesellschaft hervorbringen, die sich durch Kraft und Erneuerung auszeichnet. Die Sozialisten  schrieben sich zwar den modernen Staat auf ihr Banner, aber sie entwickelten den Begriff über ihren ideologischen Streit mit den Islamisten, was ihn unnötig verkomplizierte. Für die Liberalen war zum Aufbau eines modernen demokratischen Staates eine freie Gesellschaft erforderlich.

Das politische arabische Denken hat sich über viele Epochen hinweg mit vielfältigen Fragen beschäftigt, auch mit dem Konzept der Revolution. Aber die Revolution im Verständnis des totalitären Systems ist etwas anderes als das, was das Volk darunter versteht. Freiheit als Grundvoraussetzung für Revolution kam nicht in den arabischen Schriften vor, ebenso wenig in den öffentlichen Diskussionen. Im politischen und ideologischen Konzept, wie es die syrischen und irakischen Panarabisten in Dialektik zur Einheit zum Sozialismus entwarfen, sah man sie nicht als einses der Menschenrechte. Die in diesen Ländern herrschende Parole von Einheit, Freiheit und Sozialismus ließ sich nicht verwirklichen, da die arabischen Länder sich kulturell, gesellschaftlich und politisch stark voneinander unterschieden.

Das arabische Denken, das sich während der vergangenen vier Jahrzehnte mit Moderne und Modernisierung beschäftigte, mit dem Existenzialismus, der Freudschen Theorie, dem Marxismus, dem Strukturalismus und anderen Konzepten, sagte sich zu Beginn des dritten Jahrtausends Stück für Stück davon los und vertiefte sich in Themen, die stärker mit der arabischen Realität verbunden waren. Dann siegte die tunesische Revolution, vertrieb einen Diktator, der den Menschen das Essen vom Munde wegstahl und der ihre friedliche Revolution zermalmt hätte, wenn ihm nicht das Militär den Gehorsam verweigert hätte. Nach diesem Ereignis begann der arabische Diskurs, deutlich verunsichert, das Begriffsregister, das er vorher vernachlässigt hatte, zu überarbeiten.

Demokratie ist ein Wort, das in einer Gesellschaft, in der die Tyrannei und Unterdrückung nicht nur durch das Staatsoberhaupt ausgeübt wird, sondern bis in die Schule und die Familie reicht, zersetzend wirken kann. Nicht viel anders ist es um den Begriff der Freiheit bestellt, die zu kosten der arabischen Gesellschaft seit Jahrhunderten verwehrt blieb. Freiheit und Demokratie widersprechen nach Auffassung der Islamisten den Grundprinzipien des islamischen Glaubens und verführen zum Unglauben. Letztendlich müssen die Islamisten, wenn sie am demokratischen Prozess teilnehmen und Parteien bilden wollten, jedoch einlenken. So wird sowohl im Diskurs der Muslimbrüder in Ägypten als auch bei der Nahda-Bewegung in Tunesien und der Dawa-Partei im Irak stets auf die Freiheit als Menschenrecht verwiesen, ohne allerdings eine echte Basis zur Umsetzung dieses Rechts zu schaffen.

Dennoch geht der Diskurs heute mehr auf die dringenden Bedürfnisse des Volks ein. Er dreht sich nicht länger um Kolonialismus, Verschwörungen und die Bedrohung der arabischen Kultur durch den Westen. Stattdessen wendet er sich neuen Themen zu, wie dem Verhältnis zwischen Religion und Staat, der Machtübernahme der islamischen Strömungen und der Errichtung eines zivilen Staates, der allen Ethnien ihre Rechte garantiert, auch die auf ihre kulturellen Eigenheiten. Man befasst sich mit der demokratischen Herausforderung der Legitimierung eines demokratischen Staats durch die Einbeziehung aller politischer Strömungen auf Führungsebene, mit dem Aufbau der staatlichen Einrichtungen und dem Erlass der Gesetze. Die große Errungenschaft dieses Denkens ist die Freiheit, sich in Themen zu vertiefen, die früher als riskant galten, wie die offene Kritik an der Politik oder die konstruktive Diskussion all dessen, was den Aufbau des zivilen Staats betrifft, die Erneuerung des Systems seiner Konzepte, Gedanken und Theorien.

Die fundamentalistische Gewalt, die extreme Islamisten in Ägypten, Tunesien und Libyen gegenüber jeder Tendenz zur Errichtung eines liberalen Staates aufbrachten, zerstörte sehr schnell die neuen politischen Errungenschaften und verhindert die wirksame Beteiligung des arabischen Denkens bei der Gründung eines zivilen Staats und dem Aufbau einer Zivilgesellschaft, fern von religiöser Einmischung. Der islamische Diskurs, der bestrebt ist, alle anderen Diskurse zu kontrollieren, wird sich dem arabischen Denken in seiner liberalen und säkularen Ausrichtung jedoch stellen müssen. Die arabische Welt steht in Bezug auf ihren Umgang mit den während der schwierigen Zeit des Kolonialismus aus der westlichen Welt entlehnten Idee an einem Scheideweg. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und der zivile Staat sind die Ideen, die ihr Denken heute herausfordern.

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

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