Alle sind unterwegs
Über reisende Menschen und wandernde Worte philosophiert Zsuzsanna Gahse in ihrem "Südsudelbuch"
Zwei Menschen sitzen in einer Hotellobby und sprechen über Joghurt. Sehr aufregend klingt das nicht gerade für eine erste Unterhaltung. Aber in diesem Fall ist die Milchspeise die logische Fortsetzung des Themas „Migration und Gegenwart“. So lautete der Titel einer Tagung, auf der sich die beiden gerade kennengelernt haben. Der namenlos bleibenden Erzählerin und dem Fotografen Tokoll geht es in ihrem Gespräch um Folgendes: Nicht nur Menschen, auch Wörter migrieren.
Joghurt ist so ein „Wanderwort“. Man kennt es fast überall auf der Welt, doch immer meint es etwas anderes: „Mal hat man ein herbes, leicht flüssiges Gemenge vor sich, mal eine saure Creme oder eine beinahe schnittfeste Speise.“ Diese Erkenntnis ist mehr als ein Erfahrungswert von Globetrottern. Sie bildet den Auftakt zu einem literarischen Werk, in dem Worte die heimlichen Helden sind.
In Zsuzsanna Gahses „Südsudelbuch“ geht Sprache oftmals durch den Magen. Auch „Darmangelegenheiten sind Weltgeschichten“, lernt der Leser. Mit der „Erziehung der Magensäfte“ entsteht eine „Magenkultur“. Keiner versteht das besser als die weltgewandte Erzählerin mit ungarischen Wurzeln, die für spanisches Schaumgebäck mit gerösteten Walnüssen schwärmt. Mit der Tagungsbekanntschaft Tokoll entdeckt sie später Südeuropa.
Von der Kunst des Reisens hat sie ihre eigene Vorstellung. Erstens: zu Fuß gehen. Zweitens: nicht fliehen. Drittens: sich nicht verstecken. Auf den Spuren ihres nach Spanien ausgewanderten Großvaters reist sie nach Granada und stellt fest: „Abgesehen von kleinen Holprigkeiten passt Spanisch gut in einen ungarischen Mund.“ Sie bricht auf zu Po-Ebene und Karpatenbecken und wandert mit Horaz im Gepäck im Valsertal.
Das „Südsudelbuch“ ist „ein Reisetagebuch, bei dem es nicht auf die einzelnen Tage ankommt“, heißt es gleich zu Beginn. Tatsächlich besteht es aus einem Archipel an „Erzählinseln“, zwischen denen der Leser hin und her springen kann, ohne je den Halt zu verlieren. Gahses Prosa ist prägnant und präzise. „Über nichts möchte ich tausend Seiten schreiben“, bekräftigt ihre rastlose Erzählerin. „Schon achthundert oder fünfhundert Seiten können eine Vergewaltigung sein, eine grobe Einmischung in das Leben eines Lesers.“
Im „Südsudelbuch“ wird deshalb nicht fabuliert, sondern fokussiert. Wie unter dem Vergrößerungsglas untersucht die Autorin Vokabeln und macht diese selbst zu Protagonisten kleiner Geschichten. Etwa wenn sie vom Wettstreit der Worte erzählt. Eine Kostprobe: „Es kommt immer wieder zu einem Crash, dabei bricht ein Wort zusammen, und sobald es am Boden liegt, wird es fortgeschafft und erstickt. Andere Wörter wiederum (...) leben nicht schlecht, beispielsweise Crash, der nun dem Wort Zusammenbruch entgegenrennt, ihm voll ins Gesicht haut, so dass sich Zusammenbruch mit Nasenbluten davonstiehlt, und bald gibt es keinen Zusammenbruch mehr, sondern nur noch Crash.“
Man könnte das „Südsudelbuch“ missverstehen als Appell gegen Anglizismen. Dabei ist es eine Liebeserklärung an die geheime Welt der Worte. Allein dem Begriff „Kümmel“ widmet die Erzählerin zwei Seiten. Gahse kann Sprache lustvoll sezieren. Zudem kennt sie selbst unterschiedliche Kulturlandschaften. 1946 wurde sie in Budapest geboren, wuchs in Wien und Kassel auf, lebte in Stuttgart und Luzern. Aktuell wohnt die Schriftstellerin, die über 20 Bücher veröffentlicht hat, im Schweizer Ort Müllheim. Für ihr Werk erhielt sie viele Auszeichnungen, unter anderem 2006 den Adelbert-von-Chamisso-Preis – eine Ehrung für Autoren, die im Deutschen eine neue Sprachheimat gefunden haben.
„Alle sind unterwegs“, sagt die Erzählerin einmal im „Südsudelbuch“. Die Gründe dafür sind freilich so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Da gibt es die Verletzten, die Verschleppten und die Vertriebenen. Die Ausgewanderten, die Abgeschobenen, die Angeber. Die Agenten, die Asylanten und die Austauschschüler. Die Kurtisanen, die Diplomaten, die Soldaten. Die ganze Welt ließe sich in Gruppen aufteilen, überlegt sie. „Die einen fahren in Urlaub, die anderen nicht. Die einen haben Goldzähne, die anderen Implantate.“
Die Erzählerin versteht sich als „Reisephilosophin“ und braucht im Zug ihre Ruhe. „Bei jeder Station wünsche ich mir, dass möglichst viele aussteigen“, bekennt sie. „Wenn jemand sein Gepäck zusammenrafft und den Mantel anzieht, bin ich erleichtert“. Aus der Distanz beobachtet sie ihre Zeitgenossen interessiert, etwa den Mann, der mit einem Papierkorb spricht. Oder beschreibt die Gesten und das Gehabe der Wanderer, wenn sie nach einem Tag in den Bergen „mit eingezogenen Bäuchen“ zum sechsgängigen Menü in der Luxusherberge erscheinen.
Ironisch kommentiert sie auch den literarischen Trend der Migrationsromane: „Die Zeitungen und auch die Juroren waren geradewegs auf der Suche nach Büchern, in denen jemand die eigene ausländische Vergangenheit beschrieb.“ Sogar Leute, die ursprünglich gar nicht schreiben wollten, würden so angespornt, einen Roman vorzulegen. Und sie fügt nüchtern hinzu: „Bisher haben nicht diejenigen geschrieben, die auf einem Wrack über das Mittelmeer angekommen waren, oder in einem Lastwagen versteckt halb am Verdursten eine oder mehrere Grenzen überwunden hatten.“
Gnadenlos entlarvt sie Gutmeinende und Besserwisser. Zum Beispiel eine Baslerin, die meint „das Fremdsein der Flüchtlinge“ aus eigener Erfahrung zu kennen, denn immerhin habe sie zwei Jahre in Rabat gelebt. Manchmal liefert die Erzählerin bittere Bestandsaufnahmen: „Kaum überschreitet jemand die eigene Landesgrenze, schon ist er Ausländer und wird abgewertet.“ An Stellen wie dieser erhebt das „Südsudelbuch“ den moralischen Zeigefinger. Was inhaltlich berechtigt, literarisch aber bedenklich ist. Ebenso wie eher banale Bemerkungen zu Euro-Krise oder Libyen-Krieg. Doch das Buch ist auch gespickt mit fulminanten Sätzen: „Griechisch klingt ähnlich wie Spanisch, nur etwas zahnloser“ oder „Gedanken sind die ersten Flüchtlinge überhaupt“.
Unerschrocken wagt sich die Erzählerin immer neu ins Dickicht der Sprachen. Oft ist der Fotograf Tokoll an ihrer Seite. Von ihm, dem Sohn einer russischen Mutter und eines südserbischen Vaters, hat sie gelernt, dass Wörter selbständige Geschichten sind. Das „Südsudelbuch“ schließt deshalb mit einer Liste der im Text „ausgebliebenen Wörter“. Mit ihnen kann der Leser die Aufzeichnungen weiterspinnen. Ein würdiger Ausklang für dieses geistreiche Werk, das mit ein bisschen Joghurt die Welt erklärt.
Südsudelbuch. Von Zsuzsanna Gahse. Edition Korrespondenzen, Wien, 2012.