Poesie für alle
Wenn jeder von uns nur fünf Gedichte verschiedener europäischer Autoren kennen würde, wüssten wir viel voneinander
In Bibliotheken gibt es ein kleines Ritual, das die Franzosen fantôme nennen: Ein erfahrener Bibliothekar wird überaus ungehalten, wenn Sie nicht jedes Buch, das Sie aus dem Regal nehmen, unverzüglich durch einen Zettel ersetzen, auf dem Autor und Titel, Ihr Name, die Nummer Ihres Bibliotheksausweises und das Ausleihdatum verzeichnet sind. Denn jede Bibliothek ist in erster Linie die Idee einer Bibliothek, in der alle Bücher ständig präsent sein müssen, ungeachtet dessen, ob sich im Regal wirklich Bücher befinden oder ihre phantomhaften Äquivalente. Die Bibliothek ist der Gedanke eines Ganzen, sie ist die Totalität unserer andauernden Zutrittsmöglichkeit zur Gesamtheit des Wissens.
Wenn unser Alltag wie eine Bibliothek ist, in der wir frei nach den unterschiedlichsten Formen von Information greifen, dann ist die Poesie, mag es sich nun um lyrische Dichtung, Kurzprosa, experimentelle Formen des Schreibens oder auch bestimmte, nicht marktgängige Formen der Romanschriftstellerei handeln, in dieser Bibliothek als Phantom präsent. Die Poesie ist dergestalt Teil unseres Alltags, dass sie zugleich präsent und nicht präsent ist. Was ist heute das Phantom der Poesie und wie funktioniert es?
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek behauptet in seinem Buch „Living in the End Times“, dass in den postjugoslawischen Staaten die „ethnischen Säuberungen“ von Dichtern vorbereitet worden seien. Sie, die aufrichtigen Dichter, nicht die korrupten Politiker, hätten die Saat des Nationalismus gesät. Man müsse gar von einem „dichterisch-militärischen Komplex“ sprechen, der von Radovan Karadži? und Ratko Mladi? personifiziert werde. Dieser Logik folgend, könnte man auch behaupten, die Taten von Hitler, Stalin und Mao seien Produkte künstlerischer Einbildungskraft gewesen, waren doch ihre Schöpfer zwei Dichter und ein Maler. Doch natürlich läge man mit solcher Akrobatik völlig daneben.
Für die These, Dichter seien schuld am Verfall Jugoslawiens, steht nicht nur Žižek. Für ihn sind Dichter nationalistische Scharfmacher sui generis. Lockt dichterische Aktivität zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch nationalistische Fanatiker an, die sich im Rückblick auf romantische Vorbilder mit dem Verseschmieden beschäftigen? Oder ist die Dichtung als Sprachgebrauch, der aufs Engste an die Spezifika einer bestimmten Sprache gebunden ist, schon automatisch ein Medium nationalistischer Tendenzen? In beiden Fällen wäre die Schlussfolgerung klar: Die Dichtung sollte am besten außerhalb der Staatsgrenzen gehalten, Dichter verbannt und damit die Möglichkeit einer „besseren“, weniger „problematischen“ Gesellschaft geschaffen werden. Die Pointe ist folgende: Im Sinne des Ausschlusses der zeitgenössischen Poesie aus dem Gebiet des aktuellen Wissens ist Žižeks These, und sei sie noch so offensichtlich tendenziös, der Eurokratie auf den Leib geschrieben, für die der Nationalismus die schlimmste aller Bosheiten ist.
Ungeachtet seines kommunistischen Aufbaus ist Jugoslawien in einigem vergleichbar mit der Perspektive, zu der die EU sich in den letzten Jahren, besonders nach der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon, hinzuentwickeln bemüht. Für uns ist vor allem wichtig, dass Jugoslawien ein föderatives Staatengebilde mit autonomen Republiken, drei Amtssprachen und mehreren anerkannten Minderheitensprachen und folglich zahlreichen Schwierigkeiten bei der Implementierung grundsätzlicher Sprachpolitiken war. Das Kosovo, in dem die größte kulturelle und sprachliche Repression ausgeübt wurde, entwickelte sich zum Schlüsselproblem der gesamten Region. Hat die EU aus dem Beispiel Jugoslawiens etwas gelernt? Auf den ersten Blick sieht es nicht so aus. Aktive Sprach- und Kulturpolitik der Mitglieder ist keine Angelegenheit der EU, Ausnahme ist die lobenswerte Mega-Übersetzungsmaschine Brüssel. Von Maastricht 1992 bis heute ist die Kulturpolitik ein schmückendes Anhängsel der EU-Politik geblieben. Und die Literatur ein Anhängsel des Anhängsels.
Breitere literarische Phänomene lassen sich nicht ohne intertextuelle Verwandtschaften herbeiführen. Nationalliteraturen sind immer ideologisch generierte Abstraktionen. Konkret entstehen Gedichte aber punktuell, sie decken ein verhältnismäßig kleines Spektrum ab, begnügen sich damit, dass sie nicht den Bedürfnissen einer kohärenten Ideologie genügen. In dieser Hinsicht gibt es für mich momentan zwei Kontexte. Zunächst den der Sprache, in der ich schreibe. Diesen verstehe ich nicht als nationalen, sondern als meinen spezifisch lokalen, um nicht zu sagen intim-privatistischen Kontext. Und, zweitens, den amorph-globalen Kontext, der keinesfalls europäisch oder euroamerikanisch ist, sondern auf einem räumlich, sprachlich und zeitlich sehr gestreuten Repertoire an Texten beruht, mit denen ich in meinen Werken einen stillen Dialog führe. Die Frage ist, warum mein lokaler dichterischer Kontext außerhalb meiner lokalen Gemeinschaft jemanden interessieren sollte? Und wenn, warum sollte dieses Interesse nicht ausschließlich global sein (so, wie mich beispielsweise die zeitgenössische Poesie aus Hongkong, Tasmanien oder der Türkei interessiert), sondern spezifisch europäisch?
Ich denke, es gibt kein kleinstes gemeinsames europäisches Narrativ. Es gibt keinen Punkt, zu dem ich gemeinsam mit anderen Autoren tendiere oder gegen den ich mich wehren würde. Es gibt zahlreiche lobenswerte Versuche von Organisatoren von Literaturfestivals, Internetportalen, Literaturzeitschriften am Rande des Verfalls, die Destabilisation und das Verblassen der gesellschaftlichen Einordnung der Poesie zu korrigieren, es gibt Subventionspolitiken und Sympathien von Mäzenen für diese Respiratoren. So werden die Nischenverlage für Poesie und andere nicht kommerzielle Literatur am Leben erhalten. Trotz einer gewissen Lebhaftigkeit in diesem Bereich denke ich, dass es sich vor allem um Schönheitskorrekturen handelt, keinesfalls jedoch um eine Systemveränderung.
Das Problem liegt tiefer und hat mit dem Bewusstsein der Menschen zu tun, die unseren europäischen Alltag mit verwalten. Die Poesie sucht schon etwa seit einem Jahrhundert eine Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Rolle, ihrer inneren Verankerung in der Gemeinschaft und ihrer Funktion in der Schaffung gesellschaftskommunikativer Verbindungen. Ihrer Natur nach ist sie auf die Ansprache kleinerer Gemeinschaften beschränkt und erst über den übersetzerisch-interpretativen Apparat einer breiteren Leserschaft in Fremdsprachen zugänglich. Es scheint, als bestehe eine ungeschriebene Regel, dass die kleinsten und kompaktesten Elementarteilchen der globalen Information, die meiner Meinung nach die Poesie darstellt, am langsamsten reisen. Häufig erhalten sie sich nur durch phantomhafte Anwesenheit – wie die Zettel, welche die Integrität der Bibliotheken aufrechterhalten, wenn auch bestimmte Bücher schon seit Jahrzehnten oder manchmal noch länger aus dem breiteren Bewusstsein ausgelöscht sind.
Ich mag mittelalterliche mappae mundi, auf denen die Welt noch nicht im Maßstab abgebildet ist. Der Kartograf Matthew Paris zeichnete um 1250 eine Karte der damals bekannten Welt, welche die Strecke vom Kloster St. Albans in England, wo er lebte, bis nach Jerusalem umfasste. Auf der Karte waren die Orte verzeichnet, die der Pilger auf seinem Weg ins Heilige Land passieren musste. Auf Paris’ Landkarte gibt es keine Entfernungen, genauer gesagt, die Entfernungen zwischen allen Orten sind gleich und schlicht bedeutungslos. Anstelle der Strecke zwischen dem einen und dem anderen Ort auf dem Weg steht dort immer dasselbe Wort: jurnee, eine Tagesreise. Zwischen den Orten liegt nur die Reise, das ist alles. Ich denke, dass sich unsere gemeinsamen Bemühungen in die gleiche Richtung bewegen müssen. Neben der genauen Kartografie und außerordentlichen Sorge um die Erhaltung der physischen Kommunikationsströme Europas (denken wir daran, wie viel Geld die EU jährlich für Infrastruktur, Straßen, Eisenbahnen, Flughäfen, den Ausbau der Kommunikationsnetze, ausgibt) müssen wir alle zusammen dazu beitragen, dass wir uns auf der jurnee zwischen dem einen und dem anderen Ort, dem einen und dem anderen Staat, der einen und der anderen Sprache, der einen und der anderen Kultur kennenlernen.
Allen ist klar, dass der Mechanismus zum Erstellen einer Plattform für die Poesie, die nicht an eine Sprache gebunden wäre, kein Marktmechanismus ist, sondern sich auf der Ebene eines gemeinsamen Bewusstseins abspielen muss. Eines Bewusstseins dessen, dass die Poesie Informationen vermittelt, die wichtig sind und die zu unserem Verständnis der Prozesse innerhalb einer Gesellschaft, vor allem aber der Stellung des Einzelnen darin beitragen können. Solange es nicht selbstverständlich ist, dass ein Intellektueller, der sich selbst für europäisch hält, die Gedichte mindestens zehn lebender europäischer Dichter und Dichterinnen kennt, die in Sprachen schreiben, die nicht die Muttersprache dieses Intellektuellen sind, wird es so etwas wie eine europäische Poesie nicht geben, sondern nur nationale Dichtungstraditionen, mehr oder weniger isoliert auf einem Territorium geschrieben, das sich, wenn es um Landwirtschafts- oder Umwelt- oder Verkehrspolitik geht, Europa nennt.
Mein Vorschlag ist konkret, pragmatisch, schon mal gehört, durchführbar und nützlich zugleich: Das Curriculum aller Mittelschulen auf dem Gebiet der EU soll vorschreiben, dass jeder Europäer bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr fünf Gedichte fünf lebender Autoren aus mehr oder weniger benachbarten EU-Mitgliedsstaaten kennenlernt. Jeder Europäer soll sich durch diese Gedichte mit dem aktuellen gesellschaftlichen Kontext, den Problemen, der Ästhetik und den alltäglichen Dilemmata der Nachbarn vertraut machen. Bücher sind wie Winde. Wir müssen lernen, wie die Winde andernorts heißen, die jenen, die auf der jurnee sind, durch die Haare blasen. Jeder zukünftige Europäer soll lernen – und nach dem Kennenlernen das ausgeliehene Buch an seinen Platz zurückstellen. Anderenfalls werden bestimmte Phantome für immer durch Europa geistern.
Aus dem Slowenischen von Ann Catrin Apstein-Müller