In der Abseitsfalle
Die Jungen in Brasiliens Armenvierteln träumen vom sozialen Aufstieg durch Fußball. Inzwischen gibt es eine ganze Industrie, die das ausnutzt
Die brennende Sonne ist Angelo egal. Zusammen mit den anderen Jungs rennt der 14-Jährige dem zerfledderten Fußball hinterher, drischt ihn über den staubigen Bolzplatz in Rio de Janeiro. Einige spielen barfuß, andere haben zerschlissene Turnschuhe an, viele sind mit leerem Magen gekommen. Hier, im Unterschichtenstadtteil Santa Cruz, haben viele Jungen wie Angelo Lopes den Traum, ein Craque werden – so nennt man die besten Fußballspieler Brasiliens. Männer wie Romário oder Ronaldinho, der aus einem Armenviertel in Porto Alegre kommt und beim Straßenfußball entdeckt worden ist.
An die neunzig Prozent aller 200 Millionen Brasilianer leben heute in Städten, viele davon in den Favelas von São Paulo, Rio de Janeiro und Fortaleza, die es zu zweifelhaftem Ruhm gebracht haben: Als Orte der Armut, Aussichtslosigkeit und Gewalt sind sie international bekannt. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In Deutschland wird statistisch einer von 100.000 Einwohnern ermordet, in Brasilien mehr als 25. Glaubt man der Anthropologin Alba Zaluar, verzehnfacht sich diese Zahl, wenn man dunkelhäutige Jungen und Männer aus der Unterschicht betrachtet. Etlichen von ihnen erscheinen Kriminalität und Drogenhandel als schneller Weg aus dem Elend – und Fußball.
Unzählige Talenttests, sogenannte peneiras (zu Deutsch: „Siebe“), hat Angelo Lopes schon mitgemacht. „Wir waren bestimmt 500 Jungen, jeder musste eine Antrittsgebühr bezahlen und dann konnten wir spielen“, erzählt er über einen dieser Auswahltermine. „Ich war sehr aufgeregt, weil ich dachte, sie würden sehen, was ich kann, und mich nehmen, aber die Trainer schauten gar nicht hin.“ Ein Jahr lang pendelte er von peneira zu peneira. Seine alleinerziehende Mutter ernährt die Familie von umgerechnet 200 Euro Mindestlohn im Monat – und Angelo zahlte für seine Auswahltrainings schon mal sieben Euro Teilnahmegebühr. Danach hörte er nie wieder etwas von den Veranstaltern. „Die peneiras sind eine Geldmaschine“, sagt Angelo heute. „Ich bin auf Betrüger reingefallen.“
Im Kampf gegen die Máfia das peneiras, die „Aussieb-Mafia“, hat die brasilianische Polizei bislang wenig vorzuweisen. Im Februar wurden drei Männer in Campo Mourão im Bundesstaat Paraná festgenommen, als sie eines der angeblichen Testspiele durchführten. Drei weitere wurden im Mai in Bauru im Bundesstaat São Paulo gefasst. Die Männer gaben sich als Vertreter der großen brasilianischen Fußballvereine aus und kassierten hohe Teilnahmegebühren für ihre angeblichen Auswahlcamps. Zwischen 50 und 70 Reais, etwa 20 bis 30 Euro, mussten die jugendlichen Fußballspieler für einen Fitnesstest und eine erste technische Einschätzung berappen. Wer in die nächste Runde kam, bezahlte noch einmal zwischen 400 und 580 Euro, um angeblichen Talentscouts vorgestellt zu werden. Den sechs festgenommenen Männern wird Veruntreuung und Verschwörung vorgeworfen. Angeklagt wurde auch der Geschäftsmann Marcelo Germano, dessen Firma mehrtägige Talentcamps organisierte und dafür horrende Teilnahmegebühren kassierte. „Im Fußball war die Sichtung von jungen Athleten nicht ausreichend organisiert“, sagte Germano zu seiner Verteidigung: „Ich habe eine Methodik erfunden, um das zu ändern.“
Dennoch sind diese Nachrichten Einzelfälle. Brasilien hat mit schwerwiegenderen Verbrechen zu kämpfen und lässt den Fußballbetrügern meist ein leichtes Spiel. Aufklärungskampagnen gibt es nicht, lediglich bereits Geschädigte warnen in diversen Internetforen vor den vermeintlichen Talentsuchern.
Das Geschäft mit den Kinderträumen haben auch die großen Sportartikelhersteller für sich entdeckt: Der amerikanische Konzern Nike etwa nutzt die Talentsuche als intelligente Marketingstrategie. Unter dem Titel „The Chance“ ließ Nike insgesamt 75.000 junge Fußballtalente aus 40 Ländern antreten, um einen von acht begehrten Verträgen mit der Nike Academy zu erkämpfen. Die Gewinner dürfen eine komplette Saison in England unter den Augen der Talentscouts der Premier League trainieren und spielen. Von den sechs brasilianischen Jugendlichen in der Endrunde schaffte es jedoch kein Einziger in die Nike Academy.
Auch Juan Sebastian Amaya aus Rios Nobelviertel Barra da Tijuca begeistert sich für die Karriere als Fußballprofi. Doch weil der 15-Jährige aus einem wohlhabenden Elternhaus stammt, braucht er weder die Nike Academy noch peneiras. Stattdessen ist er im Milan Junior Sommercamp dabei. Das Trainingslager befindet sich in einem Luxusressort in Angra dos Reis, nahe Rio de Janeiro. Tausend Euro zahlt seine Mutter an den italienischen Betreiber. Auf einer Internetseite wird mit dem Logo des A.C. Milan geworben. Auch hier sollen die Jungen zu Craques werden. Und damit: reich, berühmt und erfolgreich, gefragte Werbeträger und Partygäste. Sie bekommen Unterrichtsstunden von Trainern aus Europa, absolvieren Testspiele auf dem Rasen eines umfunktionierten Golfplatzes und machen Ausdauerläufe. „Ich will für einen großen Spitzenclub spielen“, sagt Amaya, der drei Sprachen spricht und Umzüge gewohnt ist. Bisher wurde jedoch noch nie ein Talent nach Italien vermittelt. „Das soll sich aber ändern“, verspricht Massimiliano Quatti, Jugendtrainer beim A.C. Milan.
Wer tatsächlich bis nach ganz oben gelangt, der kommt häufig aus dem Ausbildungszentrum für Nachwuchskicker des FC São Paulo (SPFC). Von außen kann man nur erahnen, was sich hinter dem schweren Holztor mit dem rot-weiß-schwarzen Vereinswappen verbirgt. Die meterhohe Ziegelmauer lässt keinen Blick auf das Gelände zu, doch hier herrschen Trainingsbedingungen wie bei den Spitzenvereinen in Europa. „Erst formen wir den Mann, dann den Spieler“, sagt der Manager Marcelo Lima. Auch hier wird streng ausgesiebt: „98 Prozent unserer Jungen schaffen es nicht in die erste Mannschaft bei Sao Paulo.“ Geld kostet das Vorspielen hier nicht, auch später werden Schulung, Ausrüstung und Verpflegung vom Verein bezahlt und nicht von den jungen Spielern. Seine 200 Talentscouts im ganzen Land empfehlen Marcelo Lima etwa 6.000 Neuanwärter pro Jahr. Auf Korruption muss er dabei immer achten: „Natürlich kommen Agenten oder Familienväter und bieten hohe Summen, damit wir ihre Schützlinge mitnehmen. Diese Gefahr ist leider da.“
Getestet wird nur im Trainingszentrum in Cotia, manchmal wochenlang. Für die wenigen, die es bis zum Ende schaffen, ist fast sicher, dass sie dem SPFC als Exportschlager Millionensummen einbringen. Das sind Spieler wie Kaká, „Weltfußballer des Jahres 2007“, oder seine Nationalmannschaftskollegen Cafu, Luis Fabiano und Julio Baptista, die alle aus der Talentschmiede in Cotia kommen. „Die Quelle an Fußballtalenten ist in Brasilien unerschöpflich“, sagt Geschäftsführer José Geraldo de Oliveira: „Wenn einer geht, kommen gleich zehn nach.“ Der heimische Markt für Spieler ist hingegen begrenzt, rund 20.000 Männer stehen als Profis unter Vertrag, die Hälfte von ihnen verdient, was deutsche Hobbyspieler als Fahrtkostenzuschuss bekommen. Doch auch Vertreter des internationalen FIFA-Komitees besuchten schon das SPFC-Trainingszentrum.
„Ich will später meiner Familie helfen“, sagt Angelo Lopes, während er sich seine verschiedenfarbigen Schnürsenkel bindet, „und meiner Mutter ein Haus bauen.“ Dass dieser Wunsch durch gute Noten in der Schule wahr werden könnte, glaubt er nicht. Ein weiteres großes Problem in Brasilien, wo 2014 die nächste Fußballweltmeisterschaft stattfindet, ist das sogenannte „weiße Blatt Papier“.
Damit beschreiben Männer wie Trainer Marcelo Lima die Lebensläufe vieler Jungen: keine Schulausbildung, keine Berufserfahrung, oft sind sie Analphabeten. „Wer es beim Fußball schaffen will, hat keine Zeit für anderes“, sagt Lima: „Der muss von morgens bis abends, sieben Tage die Woche, das Dribbeln üben, Pässe trainieren, sich vorbereiten, um auf dem Rasen der Held zu sein.“ Die Jungen, sagt Lima, wollen dicke Autos, Geld und Frauen. Vor allem aber wollen sie den Favelas entkommen. „Der Fußball steht über allem, er ist zur Rettung der ganzen Familie geworden.“