Erste Liga
In jeder Gesellschaft gibt es verschiedene Ideale von Männlichkeit. Dennoch herrscht immer ein Männertyp über alle anderen
Die beiden Geschlechter verhalten sich immer gleich.Diese Sichtweise ist uns vertraut. „Boys will be boys“ („Jungs bleiben Jungs“) sagen wir etwa, um schlechtes Benehmen zu entschuldigen. Mozarts Oper heißt „Cosi fan tutte“ („So machen es alle Frauen“). Und Goethe beschwört im „Faust“ das „Ewig-Weibliche“. Ein populärer Psychologe unserer Tage, der Amerikaner John Gray, bringt es auf die Formel: „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus.“
Doch aus Erfahrung wissen wir auch, dass Frauen und Männer sich verändern können. Sie sind keine Maschinen. Anders als noch zu Mozarts und Goethes Zeiten erheben Frauen heute Anspruch auf einen Platz an der Sonne, werden Kanzlerin von Deutschland oder Premierministerin von Australien. Die Zahl der Eheschließungen geht zurück, die Zahl unehelich geborener Kinder schießt in die Höhe. In Sydney schieben immer mehr Männer stolz Kinderwagen, in den nordischen Ländern betreuen Väter ihre Kleinkinder und werden vom Staat dafür entlohnt.
Über Geschlechter und Männlichkeit wird bereits seit hundert Jahren diskutiert. Die Psychoanalyse gab einst die entscheidenden Impulse, besonders Alfred Adlers Theorie des „männlichen Protestes“, die besagt, dass übertriebene Männlichkeit mit der Angst vor Machtlosigkeit zusammenhängt. Zur gleichen Zeit fanden Kulturanthropologen in anderen Kulturen vielfältige Männlichkeitsentwürfe, die sich vom europäischen Verständnis unterschieden. Die soziologische und psychologische Forschung entdeckte die „Geschlechterrollen“ und begann, den Wandel der Rollenvorstellungen zu dokumentieren.
In den 1970er-Jahren kritisierten die Frauen- und Schwulenbewegungen „konventionelle“ Männlichkeit, ab den 1980ern entwickelten sich die „Männerstudien“ zu einem eigenständigen empirischen Forschungsbereich, der in den folgenden Jahrzehnten stark wuchs. Heute finden sich in der „Web of Science“-Datenbank mehr als 4.000 Studien und Fachartikel, die „masculinity“ oder „masculinities“ im Titel tragen.
Eine zentrale Erkenntnis der Forschung ist, dass Männlichkeit mehr ist als ein Merkmal der Identität. Männlichkeit ist eine soziale Praxis, die mit der gesellschaftlichen Position von Männern verbunden ist. In jeder Umgebung existieren mehrere Männlichkeitsentwürfe konkurrieren miteinander. Normalerweise beansprucht ein Männlichkeitsmodell eine hegemoniale Position, während andere marginal oder untergeordnet sind. Im europäischen oder nordamerikanischen Kulturkreis zum Beispiel ist die hegemoniale Form der Männlichkeit heterosexuell, berufsorientiert, bestimmend, körperlich fit, emotional kontrolliert und fähig, die Brotverdienerrolle innerhalb der Familie zu spielen. Arbeiter oder Migranten können alle diese maskulinen Attribute aufweisen, haben aber aufgrund ihrer Ethnizität oder Klassenzugehörigkeit weniger Autorität und sind deshalb marginalisierte Männlichkeiten. Schwule, Lesben oder Menschen, die aus den klassischen Geschlechterrollen ausbrechen, sind dagegen untergeordnet. Zum hegemonialen Modell existieren immer Variationen, seine Vorherrschaft steht nicht für immer fest.
Das globale Machtgefüge bilden heute multinationale Konzerne, Medienunternehmen sowie internationale Staatenbünde wie die Vereinten Nationen oder die NATO. In all diesen Arenen spielen Geschlechterverhältnisse eine Rolle. Deshalb sollten wir hier beginnen, wenn wir das Spektrum an Männlichkeiten in der Welt verstehen wollen. Die Wirtschaft wird von Männern dominiert: 98 Prozent der Chefs der größten Unternehmen der Welt sind Männer, nur zwei Prozent Frauen. So viel zu der These, der Feminismus sei passé! Auch Diplomatie und Krieg, die beiden wichtigsten Felder der internationalen Politik, sind stark männlich geprägt. Alle drei sind keine Umgebungen, in denen Geschlechtergleichheit gedeihen kann.
Westliche Medienunternehmen verbreiten Filme, Videos, Musik, Nachrichten – und liefern Deutungsmuster für Männlichkeit. Oft wird in den Massenmedien eine vereinfachte Geschichte vom Fortschritt der Geschlechterbilder erzählt. So wird der „traditionellen“ Männlichkeit – verstanden als patriarchal und manchmal gewalttätig – eine „moderne“ Männlichkeit entgegengestellt, die als aufgeschlossener, gerechter und friedfertiger gilt. Der britische Journalist Mark Simpson prägte zum Beispiel den „Metrosexuellen“, einen heterosexuellen Mann, der auch seine weibliche Seite auslebt. Durchforstet man das Internet genauer, lassen sich dort ebenfalls vielfältige Männerbilder finden, denn auch reformorientierte Männerbewegungen betreiben Webseiten und organisieren sich über neue Medien. Doch wie klein nehmen sich diese Bemühungen gegenüber der Übermacht an männlicher Gewalt in den Medien und der Flut von Internetpornografie aus, die den männlichen Herrschaftsanspruch kulturell transportiert?
Die Frage nach Männlichkeit kann aber auch ganz anders gestellt werden, als nach dem simplifizierenden westlichen Schema, das die Überlegenheit „moderner Männlichkeit“ gegenüber der „traditionellen Männlichkeit“ postuliert. Zweifel an dieser Sicht kommen vor allem aus postkolonialen Ländern und wurden in Beiträgen aus dem globalen Süden vielfach diskutiert. In seinem vor 60 Jahren erschienenen Essay „Das Labyrinth der Einsamkeit“ untersuchte zum Beispiel der mexikanische Dichter Oktavio Paz den „Machismo“ in seinem Land. Für ihn hängen die rigiden Geschlechterarrangements mit den Spannungen zwischen indigener und spanischer Kultur sowie der unvollendeten mexikanischen Revolution zusammen. Zur gleichen Zeit schrieb Frantz Fanon, ein Psychiater von der Insel Martinique, der später ein bedeutender Revolutionstheoretiker werden sollte, über die psychologischen Auswirkungen von Rassismus und Kolonialismus.
In „Schwarze Haut, weiße Masken“ setzt er sich mit der Konstruktion schwarzer Männlichkeit unter dem Druck der französischen Kolonialherrschaft in der Karibik auseinander. Ein Jahrzehnt später legte der iranische Autor Jalal Al-e Ahmad mit „Plagued by the West“ („Geplagt vom Westen“) eine Abhandlung über die moderne Kultur und Gesellschaft des Iran vor und kritisierte die entfremdete, entwurzelte Männlichkeit der neokolonialen Welt. Noch später, aber immer noch vor dem Erscheinen der ersten Fachzeitschriften zur Männerforschung im globalen Norden, lieferte der indische Psychologe Ashis Nandy in seinem Buch „The Intimate Enemy“ („Der Intimfeind“) eine erstaunliche historisch-psychologische Analyse über die Auswirkungen der britischen Kolonisation auf die Männlichkeitsentwürfe der Inder. All diese Werke sind originell oder sogar brillant, aber mit Ausnahme von Fanons Buch und Pazs Essay sind sie in Europa und Nordamerika so gut wie unbekannt geblieben.
Hüten wir uns vor dem Vorurteil, es gäbe eine „mexikanische Männlichkeit“ oder eine „islamische Männlichkeit“. Die gibt es genauso wenig wie eine „westliche Männlichkeit“. Die vielfältigen Männlichkeiten, die innerhalb lokaler Geschlechterordnungen vorkommen, verändern sich schließlich beständig unter dem Druck transnational agierender Instanzen. Zum Beispiel im heutigen Südafrika: Der Übergang von der Apartheid zur Demokratie schuf eine außergewöhnliche soziale Situation. Im Kontext der Wiedereingliederung in das globale politische und wirtschaftliche System, einer steigenden Arbeitslosigkeit, anhaltender Gewalt und einer wachsenden HIV-Epidemie versuchen verschiedene rivalisierende ethnische Gruppen, Patriarchate wieder aufzubauen. Diese Bestrebungen geraten mit dem südafrikanischen Feminismus und dem Menschenrechtsprogramm der Regierung aneinander. Deren Ideen wiederum werden mit der Forderung nach einer „afrikanischen Philosophie“, die trennende Unterschiede zwischen den Geschlechtern auflösen könnte, oder dem Ruf nach einer Politik, die auf indigenen Traditionen fußt und alte Hierarchien wiederherstellen will, konfrontiert.
Das Formen neuer Männlichkeiten läuft zudem nie einheitlich ab, wie die japanischen Mittelklassemänner zeigen. Unter dem kulturellen Druck von Frauen und der wirtschaftlichen Krise in den 1990er-Jahren wurde es sehr schwer, das japanische patriarchale Männlichkeitsmuster des „Salaryman“, des führenden Angestellten, aufrechtzuerhalten. Die Reaktionen der Männer darauf waren sehr unterschiedlich und reichten vom Ignorieren jeglichen Wandels bis hin zu ernst zu nehmenden Versuchen, ihre Identität zu verändern und gleichberechtigtere Beziehungen zu Frauen anzustreben.
Manche Staaten – Saudi-Arabien ist der bekannteste – halten hingegen an einer Geschlechter-Apartheid fest, die alle Autorität den Männern vorbehält. Für islamistische Bewegungen, die von der wahhabistischen Lehre beeinflusst sind, ist das ein religiöses Ideal. In arabischen Ländern hat die Aufwertung von Frauen viele Männer vor ein Dilemma gestellt. Dieser Konflikt wird nicht so schnell verschwinden.
In anti- und postkolonialen Kämpfen kann die Neubestimmung von Männlichkeit eng mit Gewalt verbunden sein. Die Gewalt der israelischen Besatzung im Westjordanland beispielsweise änderte die Bedingungen, unter denen sich palästinensische Männlichkeit entwickelt. Die alten Männer verloren in diesem Prozess ihre Autorität, die Führung fiel in die Hände der jungen Männer an der Frontlinie, die sich den Besatzern entgegenstellten.
Eine Gemeinsamkeit gibt es bei allen Unterschieden dennoch zwischen den Männern in der Welt: Seit 200 Jahren knüpft die kapitalistische Ideologie die Geschlechtsidentität von Männern an Lohnarbeit. Das macht Männer überall verletzlich, denn heute ist Massenarbeitslosigkeit in vielen Ländern Teil des Alltags geworden. Der Niedergang früherer Industrieregionen im Norden Englands oder an der Ruhr stellte das Männlichkeitsbild des europäischen Arbeiters infrage. Dramatische Migrationsbewegungen vom Land in die Städte schufen ein Heer von unterbeschäftigten Arbeitern in den Megacities des Südens wie Neu Delhi, São Paulo oder Mexiko City. Männer mussten auf der ganzen Welt damit zurechtkommen, dass ihre Frauen und Töchter die Brotverdiener wurden. Das bedeutete auch einen Verlust an öffentlicher Autorität und Respekt. Der Flexibilität von Männern ist in diesen Situationen viel abverlangt worden – und viele haben bewiesen, dass sie sich ändern konnten.
Migration, wirtschaftlicher Wandel aber auch ein erstarkender Individualismus haben familiäre Strukturen durcheinandergebracht. In Chile fanden Forscher bei jungen Städtern eine große Unzufriedenheit auf emotionaler Ebene. Die Idee der „romantischen Liebe“ scheint nicht nur bei jungen Frauen hohe Erwartungen an Partnerschaft zu wecken, sondern auch bei Männern. Die Unzufriedenheit der jungen Chilenen resultiert nicht aus der Ablehnung des hegemonialen Männlichkeitsentwurfs, sondern aus dem Gefühl, in unveränderlich starren, traditionellen Familienrollen gefangen zu sein.
Auch homosexuelle Identitätsentwürfe sind komplexer geworden. Der nordamerikanische Stil des Schwulseins als wichtigste Alternative zum maskulinen Heterosexuellen hat sich über den ganzen Globus verbreitet. Doch in Südostasien kann man sehen, dass lokale Männlichkeitsmuster nicht einfach durch eine Globalisierung sexueller Identitäten verdrängt werden. Es kommt zur Interaktion: Völlig neue Muster des Schwulseins bilden sich heraus, die süd-ostasiatische und nordamerikanische Stile verbinden.
Das globale Bild von Männlichkeit umfasst sehr komplexe Wandlungsprozesse, deren Richtung heute alles andere als klar ist. Westliche Männlichkeiten lassen sich dem Rest der Welt nicht aufzwingen. In vielen Teilen der Welt sind Männer stark von ökonomischem und kulturellem Wandel betroffen. Wie Männer auf diesen Wandel antworten, welche Männlichkeiten sich durchsetzen werden, ob rückwärtsgewandte oder nach Geschlechtergleichheit strebende, ist letztlich eine politische Frage – eine Sache des gesellschaftlichen Kampfes.
Aus dem Englischen von Karola Klatt