Eine unendliche Geschichte
Warum Männer sich ein Leben lang vor anderen Männern beweisen müssen
Mit nur einer Frage könnte ich in jeder Gruppe fünf- bis sechsjähriger Jungen auf einem Spielplatz in den USA eine handfeste Rauferei provozieren: „Wer von euch ist der Waschlappen?“ Zwei Szenarien sind möglich: Ein Junge beschuldigt einen anderen, dieser wirft die Beleidigung zurück und wahrscheinlich kämpfen die beiden es aus. Die zweite Möglichkeit ist: Die ganze Gruppe sucht sich ein Opfer, umringt es und ruft: „Der ist es!“ Dieser Junge muss es mit allen aufnehmen oder er bricht in Tränen aus und rennt gedemütigt nach Hause.
Oder: Auf einem Schulhof sagt ein Junge zu einem anderen: „Zeig mal deine Fingernägel!“ Wenn der Junge die Handfläche zum Gesicht dreht und die Finger krümmt, hat er den Test bestanden. Doch wenn er die Finger ausstreckt und die Handfläche dabei vom Körper wegdreht, ist er als „Mädchen“ ertappt.
Von frühester Kindheit an wird unsere Männlichkeit von anderen Jungen auf die Probe gestellt. Wir fürchten uns dauernd davor, nicht männlich genug zu sein und in diesen gar nicht so unschuldigen Spielen durchschaut zu werden. Männlichkeit ist weder eine ewig gültige, zeitlose Qualität, die tief in der Seele eines jeden Mannes wohnt, noch etwas rein Biologisches, das in einem Schwall von Testosteron an die Oberfläche tritt. Männlichkeit muss ständig und unerbittlich unter Beweis gestellt werden.
In den meisten modernen Gesellschaften reifen Jungen nicht mehr zu Männern, indem sie zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendeinen mächtigen Talisman erhalten oder eine schwierige Initiationsaufgabe meistern. Heute wird man zum Mann, indem man sich vor anderen bewährt – immer und immer wieder. In diesem Sinne sind Jungen untereinander eine Art Geschlechterpolizei, die an den Grenzen des akzeptablen Verhaltens patrouilliert und notfalls die Regeln mit Fäusten durchsetzt.
Auch am anderen Ende des Lebensspektrums wird noch um Männlichkeit gerungen. Als der Schauspieler Jack Palance, der immer harte Kerle gespielt hatte, 1992 im Alter von 71 Jahren den Oscar für die beste Nebenrolle erhielt, beklagte er in seiner Dankesrede die zögerliche Haltung von Filmproduzenten, die ihm immer öfter begegnet, und vermutete dahinter die bange Frage: „Sollen wir es wirklich riskieren, diesen alten Kerl noch zu engagieren?“ Darauf warf er sich auf den Bühnenboden und machte einige einarmige Liegestütze. Es war wahrhaft ergreifend zu sehen, wie dieser versierte Schauspieler noch immer beweisen musste, dass er „Manns“ genug war zu arbeiten und – so formulierte er es selbst auf dem Podium – immer noch „einen hoch“ bekam.
Wer Schwäche, Gebrechlichkeit oder Fragilität zugibt, ist ein Schlappschwanz, ein Waschlappen, kein echter Mann. Die Angst, als Weichei gelten zu können, treibt Männer ihr ganzes Leben lang um. Der Psychologe Robert Brannon setzte sie an erste Stelle, als er 1976 die vier Grundregeln der Männlichkeit definierte:
1. „No sissy stuff“ („Kein Weiberkram“): Man darf niemals etwas tun, was auch nur im Entferntesten auf Weiblichkeit hinweist. Männlichkeit ist die vollkommene Ablehnung des Weiblichen.
2. „Be a big wheel“ („Sei eine große Nummer“): Männlichkeit wird an der Höhe des Einkommens gemessen. Reichtum, Macht und Status sind Merkmale von Männlichkeit.
3. „Be a sturdy oak“ („Sei ein Fels in der Brandung“): Auf echte Männer ist in Krisenzeiten Verlass, weil sie keine Emotionen zeigen. Sie weinen nicht.
4. „Give ’em hell!“ („Mach ihnen die Hölle heiß!“): Eine Aura aus Mut und Aggression macht männlich. „Riskiere etwas, führe ein Leben am Abgrund!“
An diesen Regeln orientiert sich seit Generationen der Übergang von der Kindheit zum erwachsenen Mann, obwohl sie natürlich einige innere Widersprüche aufweisen: „Wie ein Fels in der Brandung“ zu stehen, verlangt ein ruhiges, besonnenes Temperament, während „jemandem die Hölle heiß“ zu machen erfordert, dass man übermütig ein Risiko eingeht. Doch es gibt noch ein anderes Problem: Wer nach diesen Regeln agiert, ist zum Scheitern verurteilt. Man kann niemals genügend erfolgreich sein, in jeder Situation unerschütterlich mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und es immer allen zeigen. Und so werden wir Männer ein Leben lang von dem Gespenst, das uns als Schlappschwanz entlarven will, gejagt.
„Was Männer brauchen, ist die Anerkennung durch andere Männer“, schreibt der Dramatiker und Pulitzerpreisträger David Mamet. Frauen sind oft nur die Währung, die Männer benutzen, um ihren Status aufzuwerten. Männlichkeit ist somit eine homosoziale Angelegenheit – wir beweisen uns, vollbringen Heroisches und riskieren außerordentlich viel, nur damit andere Männer uns als echte Männer sehen.
Das dominante Gefühl der Männlichkeit ist Angst. „Nicht die Angst vor Frauen, sondern die Angst, im Angesicht anderer Männer gedemütigt und verletzt oder von anderen Männern beherrscht zu werden“, schreibt der Literaturkritiker David Leverenz. Das ist das wohlgehütete Geheimnis der Männlichkeit: Wir haben vor anderen Männern Angst und für diese Angst schämen wir uns.
Scham macht stumm, verursacht jenes Schweigen, von dem manche annehmen, es wäre ein Gutheißen der Dinge, die Frauen, Minderheiten, Schwulen oder Lesben angetan werden. Dieses angsterfüllte Vorbeihuschen an einer Frau, die gerade von anderen Männern bedrängt wird. Das hinterhältige Schweigen, wenn in einer Bar sexistische oder rassistische Witze gerissen werden. Diese feuchtkalte Stille, wenn im Büro auf Schwulen herumgeritten wird. Unsere Angst, vor anderen Männern als unmännlich zu erscheinen, verbietet, dass wir den Mund aufmachen. Es ist für Männer außerordentlich schwer, sich vom Urteil anderer Männer frei zu machen, selbst für jene kritischen Männer, für die Geschlechtergleichheit erstrebenswert ist. Deshalb beklagen sich viele Frauen darüber, dass ihre eigentlich verständnisvollen und einfühlsamen Partner oder Freunde in einer Gruppe mit anderen Männern doch über sexistische Witze lachen oder sogar selbst blöde Sprüche reißen.
Durch Imponiergehabe vor anderen werden Jungen zu Männern. In den USA bereiten uns brutale Teenager Sorgen, wir schimpfen über Straßengangs und sind schockiert über das Ausmaß von Drogen, Gewalt und sexueller Belästigung an den Schulen. Doch nur sehr selten erwähnen die Nachrichten, dass die jugendlichen Täter oder marodierenden Banden, ob weiß oder schwarz, fast ausschließlich aus jungen Männern bestehen. Sie berichten auch nicht, dass Schwule immer von männlichen Heranwachsenden attackiert werden. Dass es männliche Jugendliche sind, die Obdachlose anzünden oder auf Partys in Gruppen betrunkene, bewusstlose Frauen vergewaltigen.
Sexismus und Homophobie sind die Grundprinzipien dieses gestörten Initiationsprozesses. Sie sind mehr als die irrationale Angst vor Frauen oder schwulen Männern. Wir haben in den USA ein „Jungenproblem“, weil wir uns um das Bedürfnis junger Männer, sich vor anderen Männern zu beweisen, nicht gekümmert haben. Diesem Bedürfnis, eine Selbstgewissheit als Mann voll Vertrauen und Sicherheit angesichts der eigenen Männlichkeit erlangen zu können, müssen wir uns als Kultur stellen. Das erfordert meines Erachtens eine kulturelle Neudefinition dessen, was es bedeutet, ein echter Mann zu sein. Solange uns das nicht gelingt, werden weiter Anwälte, Polizisten, Gerichte und Gefängnisse sich mit den erschreckenden Folgen des ständigen Bemühens, vor anderen Männern als echter Mann dazustehen, auseinandersetzen müssen. Bei den Auswirkungen, die das auf Frauen, Schwule und Lesben, Einwanderer und nicht zuletzt andere Jungen hat – welche Wahl bleibt uns da?
Aus dem Englischen von Karola Klatt