Die Testwahl
Welche Partei passt zu mir? Im Oktober 2011 stellten Hamburger Studenten in Kairo einen Wahl-O-Maten für Ägypten vor
„Warum seid ihr gekommen?“ Mohammad, einer der jungen Ägypter, die um uns herum auf Plastikstühlen im Kreis sitzen, ist misstrauisch. Es scheint für ihn nur schwer nachvollziehbar, warum fünf Studierende der Hamburger Universität in ihrer Freizeit nach Ägypten fahren, um Workshops zu geben. Unser Übersetzer legt ein gutes Wort für uns ein: „Sie sind keine Spione. Ihr könnt ihnen vertrauen.“
Wir sind in Ägypten, um den Wahl-O-Maten für die bevorstehenden Wahlen vorzustellen, die ersten freien Wahlen nach dem Sturz Mubaraks. In den vergangenen Monaten haben wir in Deutschland die Berliner NGO „mict“ dabei unterstützt, einen Wahl-O-Maten für Ägypten zu entwickeln. Nach Beantwortung von 30 Fragen zeigt das Programm an, welche zur Wahl zugelassene Partei der eigenen politischen Position am nächsten steht.
Zu Beginn des Workshops in Kairo führen wir eine Testwahl mit Stimmzetteln durch, natürlich bleibt das Wahlgeheimnis gewahrt. „Was, wenn ich überhaupt nicht weiß, wen ich wählen soll? Ich kenne doch die ganzen Parteiprogramme überhaupt nicht“, fragt Jailane. Kein Wunder, zur Wahl stehen über 60 Parteien, deren Programme sich oft nur geringfügig unterscheiden. In der ersten Gruppenphase geht es deshalb darum, sechs ausgewählte Fragen zu diskutieren, etwa ob das Amt des Verteidigungsministers von einer zivilen Person besetzt sein sollte. Nach einer halben Stunde geht es zurück ins Plenum, wo die Teilnehmer besprechen sollen, wie diskutiert wurde und ob sie sich gegenseitig überzeugt haben. Hokky, ein engagierter Student, stellt die Arbeit seiner Gruppe vor: Kontrovers sei die Diskussion verlaufen, denn der „Electionnaire“, wie der Wahl-O-Mat in Ägypten heißt, fragt auch danach, wie man zur Einführung der nicht religiös geschlossenen Zivilehe steht, ob die Scharia Verfassungsgrundlage bleiben soll und wie viel Macht das Militär behalten und das Parlament bekommen soll – heikle Themen. „Wenn kein Konsens zu finden war, haben wir abgestimmt: Für die Zivilehe etwa gab es in unserer Gruppe keine Mehrheit“, berichtet Hokky.
Als Nächstes werden nun die Parteiprogramme unter die Lupe genommen. Die Teilnehmer vergleichen ihre eigene Meinung mit denen der Parteien, einzelne Punkte werden ausgiebig diskutiert. Im Plenum fragen wir, ob die Antworten der Parteien überraschen. „Meine bisher favorisierte Partei vertritt überhaupt nicht meine Meinung. Ich werde sie jetzt auf keinen Fall wählen“, empört sich Mufida.
Nach drei Stunden sind noch immer fast alle Teilnehmen mit Elan bei der Sache. Wir halten uns bei den Diskussionen im Hintergrund. Am Ende, es ist schon nach Mitternacht, bitten wir um Feedback. Mohammad bedankt sich für das demokratische Experiment, sein Misstrauen ist verschwunden: „Ich habe gelernt, dass es andere Meinungen geben kann, dass ich sie akzeptieren sollte und dass ich aus der Diskussion lernen kann.“
Wir geben noch weitere Workshops in Kairo und halten Vorträge. Obwohl das Feedback der jungen Ägypter für eine Menge Motivation sorgt, ist unsere Stimmung gedämpft. Während wir in einem Café sitzen und unsere Eindrücke Revue passieren lassen, gibt es wenige Kilometer entfernt Ausschreitungen, bei denen fast 30 Menschen getötet und über 200 verletzt werden.
Zwei Monate später, im Dezember 2011, sind wir erneut in Ägypten, kurz nach dem ersten Wahltag am 28. November. Viele scheinen erleichtert, dass es tatsächlich zu Parlamentswahlen gekommen ist, andere finden, die Revolution müsse weitergehen – auch nach den Wahlen. Eine verlässliche Prognose ist kaum aufzustellen, die Urnen für die Wahl der zweiten Kammer – des Schura-Rats – werden erst Ende Januar 2012 aufgestellt. Wie in unseren simulierten Wahlen haben die Muslimbrüder bisher mit ihrer Partei für Freiheit und Gerechtigkeit in vielen Bezirken – mit bis zu 40 Prozent der Stimmen – gut abgeschnitten, aber auch liberale Parteien können Erfolge verbuchen. Doch von der Zusammensetzung des ersten frei gewählten Parlaments auf die Zukunft Ägyptens zu schließen, wäre zu einfach. Die Geschichte der westlichen Demokratie zählt Hunderte von Jahren – die ägyptische Revolution noch kein einziges.