Der Frühling der Vatermörder
Wie die jungen arabischen Revolutionäre mit dem patriarchalischen System brechen
„Tötet mich nicht, meine Kinder – haram alaikum, es ist euch verboten.“ In den YouTube-Videos von Muammar al-Gaddafis Ermordung waren dies seine letzten Worte. Es war der Schrei eines Vaters, der noch immer dachte, er könne seinen tyrannischen Einfluss geltend machen. Traditionell darf in der arabischen Kultur der Vater die Rechte seiner Söhne verletzen, ohne dass sie sich wehren dürfen. Neben kulturellen hat dies auch religiöse Gründe: Sowohl der Koran als auch die Hadithe, die Aussprüche des Propheten Mohammed, verlangen von den Gläubigen Gehorsam gegenüber dem Regiment der Väter. Seinen väterlich-religiösen Befehl verstärkte Gaddafi noch durch den Ausdruck haram alaikum. Wörtlich bedeutet er, dass jemand etwas tut, was der Islam verbietet. Gleichzeitig enthält er ein Gnadengesuch: „Verschont mich!“
Den eigenen Machtanspruch mit vermeintlicher Demut zu verbinden ist ein Trick, auf den die arabischen Diktatoren in Krisenzeiten oft zurückgegriffen haben. Das beste Beispiel ist die Rücktrittsrede des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser nach der Niederlage im Sechstagekrieg 1967, in der er einerseits Respekt gegenüber dem Oberhaupt einforderte und andererseits versuchte, als gebrochener Vater Mitleid zu erwecken. Ähnliches bezweckte Hosni Mubarak mit seiner kitschigen und verachtenswerten letzten Rede als ägyptischer Präsident. Er bat darin sein Volk, in seinem Land sterben zu dürfen, und bezichtigte diejenigen, die gegen ihn revoltiert haben, des Verrats am eigenen Vater. Auch die „Söhne Mubaraks“, wie sich seine Gefolgsleute genannt haben, versuchten, den gestürzten Präsidenten mit ähnlichen Argumenten vor einem Schicksal wie dem Gaddafis zu bewahren.
Zum ersten Mal seit dem Bestehen der arabischen Nation rebellieren die Volksmassen nun gegen die Macht der Väter. Viele Gründe veranlassten die jungen Araber dazu, ihren Vätern nicht länger Folge zu leisten. Wichtig ist, dass es nicht darum geht, einen autoritären Führer oder despotischen Vater gegen einen gerechten einzutauschen. Das ganze patriarchalische System soll abgelöst werden.
Sigmund Freud beschreibt in seinem Buch „Totem und Tabu“, wie in primitiven Stämmen der Urvater bei einem gemeinschaftlichen Mordritual geopfert wird, an dem sich alle in ihrer Männlichkeit unterdrückten Söhne beteiligen. Der Tötung des Königs und Gottes durch seine Söhne folgt ein Fest, während dessen die Tat gemeinschaftlich bereut wird. Aus den Gefühlen der Freude und Reue heraus wird der Stamm jedes Jahr neu geboren. In der islamischen Kultur spielt hingegen wie im Christentum und im Judentum das Opfer des Sohnes eine entscheidende Rolle. Mit dem „Großen Fest“ feiern die Muslime die Bereitschaft des Propheten Ibrahim, seinen einzigen Sohn zu opfern. Auch für den muslimischen Freiheitskämpfer besteht die größtmögliche religiöse Handlung darin, sich selbst für Gott – den großen Vater – zu opfern. Dies bescheidet ihm die volle Anerkennung seiner Mannhaftigkeit.
Die amerikanische Anthropologin Julie Peteet untersucht in einer Studie über Gewalt in den besetzten palästinensischen Gebieten, wie der Widerstand gegen Folter und Verhaftung durch die israelische Regierung zu einer Art Ritus wurde, durch den palästinensische Jugendliche ihre Virilität beweisen konnten: „Was als Exempel der Demütigung gedacht war, wurde zum Exempel der Ehrbarkeit, Männlichkeit und moralischen Überlegenheit. Auf dem Leidensweg für die palästinensische Sache gelten Folter und das Ertragen körperlicher Gewalt als Prüfungen, die es zu bestehen gilt.“
Auch die Revolutionen des arabischen Frühlings wurden von den Körpern der jungen Menschen getragen, vom Widerstand dieser Körper gegen alle Formen von Misshandlung und Folter bis hin zum Tod durch Erschießen oder durch Panzerketten. In den lodernden Körpern dieser jungen Leute verschmelzen ihre Mannhaftigkeit und ihr Selbstwertgefühl. Dabei handelte es sich nicht nur um ein symbolisches Brennen. So zündete der junge Tunesier Mohamed Bouazizi sich aus Protest gegen seine Misshandlung durch die Polizei selbst an und in Ägypten kam es zu ähnlich motivierten Selbstverbrennungen.
Die patriarchalische Macht stützt sich in ihrer Ausübung, ob durch die Familie, den Staat, oder die Religion, auf die Kontrolle der Körper: darüber, wie die Menschen sich bewegen, wie sie aussehen und gekleidet sind und wie sie auftreten – von der Unterwäsche über den Haarschnitt, die Kopfbedeckung oder das Fasten bis hin zur Unterbindung sexueller Aktivität, besonders der Frauen. Die Verbrennung und Zerstörung des Körpers ist daher die stärkste Form des Protests und der Provokation der patriarchalischen Macht. Besonders unter jungen arabischen Frauen war die Selbstverbrennung bereits vor den Revolutionen die am meisten verbreitete Art, sich als Zeichen des Aufstands selbst zu töten.
Ich erinnere mich an die ersten Tage nach dem Ausbruch der ägyptischen Revolution am 25. Januar: Nachdem man versucht hatte, die Demonstrationen gewalthaft zu unterdücken, zeigten viele junge Leute als Beweis ihres Heldentums ihre Wunden vor. Maßgeblich war aber nicht nur, dass sie sich der Gewalt ausgesetzt hatten, sondern vielmehr, dass sie sich zur Wehr setzten. Die etwa zwanzig Stunden andauernde Schlacht an den zwölf Ausgängen des Tahrir-Platzes war für die Revolution entscheidend, denn sie markierte den Übergang von der passiven Bereitschaft, für das Recht auf freie Meinungsäußerung zu sterben, zur aktiven Verteidigung dieses Rechts. Der Körper eines jungen Mannes, der sich, einen Stein in der Hand, gegen Schwerter, Kamele und Gewehre zur Wehr setzt, ist der Inbegriff der Tapferkeit: Der Prophet David tritt Goliath entgegen.
Auch bei den weiblichen Demonstranten hat sich Bemerkenswertes zugetragen. Traditionell gilt es als Schande, wenn arabische Frauen ihren Körper entblößen oder Zudringlichkeiten aussetzen. Die Frauen aber, die sich im Kampf für ihr Land oder ein politisches Ziel solcher Schmach aussetzen, genießen das Ansehen der großen Mehrheit ihrer Landsleute. Durch ihren Widerstand gegen die Gewalt haben sie die Anerkennung als vollwertige Bürgerinnen erlangt, die ihnen bislang vewehrt war.
Das System Mubaraks hat etwa ein Jahr vor der Januarrevolution versucht, Demonstrantinnen durch massenhafte sexuelle Belästigung zu demütigen. Derselben patriarchalischen Ratio folgend ließ das Militär nach Mubaraks Rücktritt Hunderte junger Leute foltern und einige junge Frauen auf die Intaktheit ihres Hymens untersuchen. Damit wollte man die Moral der jungen Leute untergraben und sie zwingen, wieder wie folgsame Söhne und Töchter zu spuren – ein weiterer Fehler, welcher der Militärregierung nicht vergeben wird.
Der neue Mut und das veränderte Auftreten der Revolutionäre sind der alten Generation, die einer überkommenen Vorstellung von Männlichkeit anhängt, unbegreiflich. Die Konservativen versuchen, ihre Herrschaft durch Muskelkraft, Waffen und Uniformen aufrechtzuerhalten. Der Konflikt zwischen zwei grundverschiedenen Männerbildern wurde in den letzten Wochen an den Wänden Kairos offenbar. Überall sieht man dort Graffiti mit dem Bild des politischen Aktivisten und Bloggers Alaa Saif Abdelfattah, darunter ein Wort, das für die jungen Ägypter von großer Bedeutung ist: dakar. Dakar ist die umgangssprachliche Form des hocharabischen Worts für „männlich“, dhakar, und impliziert eine spezifisch arabische Auffassung von Männlichkeit: sexuelle Überlegenheit gepaart mit Edelmut, Tapferkeit und Scharfsinn. In Gesprächen hört man oft, die ägyptische Nation, ein bestimmtes Viertel oder Dorf bräuchte einen dakar, einen echten Kerl.
Alaa Saif Abdelfattah ist ein Rechtsanwalt, der den regierenden Obersten Rat der Streitkräfte dafür angeprangert hat, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen, und der schließlich selbst vor ein Militärgericht berufen wurde. Nach massenhaften Protesten wird sein Fall nun vor einem zivilen Gericht verhandelt. Mit seinen langen Haaren entspricht Saif Abdelfattah, ein säkularer Intellektueller, keinesfalls dem islamischen Männerbild und unterscheidet sich auch von früheren Revolutionären.
Menschen wie Alaa Saif Abdelfattah haben die ägyptische Revolution getragen. Wahrscheinlich ist es noch ein langer Weg, bis sich die ganze ägyptische Gesellschaft die Werte dieser jungen Menschen zu eigen macht, vielleicht sind die reaktionären Kräfte auch immer noch zu groß. Langfristig werden die arabischen Revolutionen nur dann Erfolg haben, wenn die junge Generation sich durchsetzt.
Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell