Das Schicksal des Ganzen

In seinem Buch plädiert der französische Anthropologe Philippe Descola dafür, Natur und Kultur zusammenzudenken

Nicht ungewohnt ist die Erfahrung, dass Romane unsere Auffassung der Welt erschüttern. Viel seltener und umso wertvoller sind die Sachbücher, die Ähnliches bewirken. Genau dies leistet das Buch des französischen Anthropologen Philippe Descola, „Jenseits von Natur und Kultur“. Sechs Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich liegt das Werk endlich in deutscher Übersetzung vor – zusammen mit einer Monografie, „Leben und Sterben in Amazonien“, die den Aufenthalt des Wissenschaftlers bei den Jivaro-Indianern dokumentiert.

Denn der Ausgangspunkt von Descolas Reflexionen liegt im westlichen Teil von Amazonien, an  der Grenze zwischen Peru und Ecuador. Mit seiner Partnerin lebte der Franzose zwei Jahre lang in einem Stamm namens Achuar, der nicht nur rund 5.000 Menschen, sondern auch andere beseelte Lebewesen umfasst. Bei den Achuar entdeckt der Anthropologe, dass Wollaffen oder Tukane rachsüchtig sind, Maniokpflanzen im Traum sprechen. Er erfährt, dass die die Flussgeister Heiratsregeln folgen.

Die Natur wird von den Achuar mit menschlichen Attributen ausgestattet. Sie gehen davon aus, dass Tiere wie sie selbst fühlen, und schreiben ihnen moralisches Verhalten zu. Anstatt den Achuar Zivilisationsferne oder Spinnerei zu unterstellen, schlägt Descola einen anderen Weg ein: „Die inneren Überzeugungen, zu denen ein Anthropologe gelangt“, resümiert er seine Reise an die Ufer des Kapawie, „sind häufig das Ergebnis einer sehr speziellen ethnografischen Erfahrung.“ Dass Tiere und Pflanzen auch eine Seele haben, stellt unsere Vorstellung von Natur und Kultur auf den Kopf. Üblicherweise wird die Natur als Reich der physikalischen und chemischen Gesetze verstanden, die Kultur als Gebiet menschlicher Errungenschaften, wo der Geist jedes Einzelnen sich entfaltet. Egal ob die Natur beherrscht werden soll oder als paradiesischer, zu schützender Ursprungsort gilt, die Perspektive ist  immer dualistisch: Natur und Kultur werden klar voneinander getrennt.

Descolas ganzes Forschungsprogramm besteht in der Relativierung dieses Dualismus, den er als typisch westlichen „Naturalismus“ bezeichnet. Die Teilung der Welt in einen Bereich der Natur und einen Bereich der Kultur sei nur eine Möglichkeit, sich die Beziehung zwischen Menschen und Nichtmenschen – seien es Tiere, Pflanzen oder Objekte – vorzustellen. In „Jenseits von Natur und Kultur“ stellt der Autor drei Alternativen vor – sogenannte „Kosmologien“. Die erste ist die des Animismus, wie er bei den Achuar zu finden ist. Bei den Jivaro-Stämmen, aber auch in subarktischen Regionen Kanadas, in Sibirien oder bei den Chewong der malaiischen Halbinseln herrschen ähnliche, für uns sehr fremde Denkmuster. Geselligkeit wird dort keineswegs nur den Menschen nachgesagt.

Die vielen Formen der Körper und ihre Fähigkeit zur Metamorphose ändern nichts daran, dass alle existierenden Wesen ein Innenleben besitzen. Während in der dualistischen Welt die Natur eint und die Kultur trennt, verhält es sich bei den animistischen Völkern genau umgekehrt: Der Körper differenziert; das innere Leben verbindet. In diesem System spielen die Schamanen die Rolle der Vermittler. Der Leser von „Leben und Sterben in Amazonien“ kann in diese faszinierende Welt des Animismus eintauchen. In „Jenseits von Natur und Kultur“ wendet sich Descola einer zweiten Kosmologie zu, die vor allem in Australien vertreten ist: dem Totemismus. In diesem System glauben die Menschen an eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen sich selbst und einem Tier, einem Objekt oder einer Pflanze. Hier greift der Anthropologe auf bekannte Analysen zurück, hebt jedoch hervor: Das Totem bestätige nicht die Sonderstellung der Menschen in ihrer Beziehung zu den Nichtmenschen, wie die Lesarten eines Sigmund Freud oder eines Claude Lévi-Strauss suggerieren.

Vielmehr sei das Totem das Sinnbild einer gemeinsamen Genealogie, eines Ursprungs – die von den Aborigenes oft als „Traumzeit“ bezeichnet wird und für deren Fortbestehen die Einhaltung von Heiratsregeln ausschlaggebend ist. In diesem Schema sind weder das Innenleben noch die körperlichen Attribute relevant, um die Existierenden voneinander zu trennen. Anders verhält es sich im sogenannten Analogismus, einer dritten Kosmologie. In China, bei den Nahua in Mexiko, aber auch in den antiken Stadtstaaten der „alten Welt“ ist es üblich, den Kosmos als Maßstab des Guten zu betrachten – und alles andere als Variation dieser perfekten Ordnung. Die Gesamtheit der Menschen, Tiere und Pflanzen wird, so Descola, „in eine Vielzahl von Wesenheiten, Formen und Substanzen aufgesplittert, die durch geringfügige Abweichungen getrennt und zuweilen in einer Stufenleiter eingeordnet sind“. Die schwindelerregende Vielfalt der Elemente wird dadurch kompensiert, dass eine feste, hierarchisierende Verbindung zwischen ihnen erstellt wird. Im Gegensatz zum Animismus, wo Innenleben und daher Handlungsfreiheit allen zusteht, ereilt dort jedes Einzelteil das Schicksal des Ganzen.

Mit der Akribie des Forschers, der seine Analysen auf empirische Untersuchungen stützt, und mit der Ambition des Philosophen, der vor der Ontologie – dem Denken über unsere Beziehung zur Welt – nicht zurückschreckt, liefert Descola einen brillanten Essay ab. In „Jenseits von Natur und Kultur“ zeigt er anschaulich, dass unsere Weltbilder nicht überall auf der Erde gelten. Man könnte sagen, dass dies für einen Anthropologen, der berufsbedingt im Blick über den westlichen, eurozentrischen Tellerrand geübt ist, eine gewöhnliche Leis­tung sei. Handelt es sich also um die vorhersehbare Studie eines Schülers von Claude Lévi-Strauss, der schon vor fünfzig Jahren die Ethnologie aus der dunklen evolutionistischen Ecke gescheucht hatte, indem er sich weigerte, von rückständigen Naturvölkern zu sprechen? Descolas „Jenseits von Natur und Kultur“ ist viel mehr als das.

Der Autor nimmt sich darin vor, das eigene Wissenschaftsfach wachzurütteln, und es gelingt ihm meisterhaft. Das Erbe von Claude Lévi-Strauss schlägt er nicht aus. Gemäß den Prinzipien des Strukturalismus nimmt er wenig Rücksicht auf die Geschichte. Nicht der Kontext, in dem die von ihm beschriebenen Stämme leben, ist für ihn bedeutend, sondern eher das stabile Gebäude ihrer Kosmologien. Den ethnologischen Methoden bleibt der Autor außerdem treu, indem er den Tausch, die Gabe, den Raub oder die Mechanismen der Übermittlung untersucht. So kann Descola mit Kollegen in einen Dialog treten, ohne in Verdacht zu geraten, seine Zunft diskreditieren zu wollen. Doch gleichzeitig greift er mutig die Prämissen der eigenen Disziplin an. Denn wer, wenn nicht die Anthropologen selbst, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die „Kulturen“ zu studieren – als Belege für die Vielfalt der Welt, im Kontrast zu den ewigen Naturgesetzen? Lévi-Strauss’ Idee der Struktur zieht Descola den Begriff des „Schemas“ vor.

Er schreibt lieber von „Kollektiven“ als von „Gesellschaften“. So werden klassische Konzepte unter die Lupe genommen, um die Tendenz der Ethnologie zum Naturalismus zu entlarven. Descola hält sich den Spiegel sogar selbst vor und prüft seine eigenen früheren Arbeiten: Er habe mal fälschlicherweise von „Sozialisierung der Natur“ gesprochen. Doch davon auszugehen, dass Charaktere der Gesellschaft auf die Natur projiziert werden, setze auch eine Unterscheidung zwischen Kultur und Natur voraus. Der Leser wird die gesellschaftlichen Implikationen von Descolas Thesen schnell erkennen. In Zeiten der Globalisierung erweist sich die kritische Überprüfung des eigenen Weltbildes sicherlich als nützlich. Gerade in Lateinamerika – und insbesondere im Amazonasbecken – sind außerdem politische und wirtschaftliche Prozesse im Gange, welche die Bewahrung der Natur zur Priorität erklären und die Ureinwohner zu deren legitimen Beschützern ernennen. Beim Lesen schleichen sich jedoch Zweifel darüber ein, ob dies der richtige Weg sei. Denn den dort lebenden Völkern wird so eine Vorstellung von Natur auferlegt, die sie möglicherweise gar nicht kennen.

Genau in diesem Punkt liegt auch der Reiz von Descolas Logik: Es geht dem Autor keineswegs darum, die westliche Distanzierung von der Natur zu beanstanden, um eine exotisch anmutende Harmonie heraufzubeschwören. „Jenseits von Natur und Kultur“ ist in diesem Sinne kein plattes ökologisches Manifest. Im Einklang mit der Natur zu leben, mag ein Ziel für Großstadt-Vegetarier sein, dies bleibt jedoch dem Dualismus verhaftet, so Descola. Der Naturschutz entpuppt sich als Produkt unseres westlichen Denkapparats und die Ökologie offenbart lediglich eine Art Sehnsucht nach einer besseren Kommunikation mit den Nichtmenschen.

„Die im 19. Jahrhundert florierenden fremdartigen Varietäten der Naturphilosophie, der gegenwärtige Erfolg der neoschamanistischen Bewegungen und der New-Age-Esoterik (…) zeugen von dem in jedem von uns mehr oder weniger ruhig schlummernden Wunsch, die verlorene Unschuld einer Welt wiederzufinden, in der die Pflanzen, die Tiere oder die Objekte Mitbürger waren“, schreibt der Autor und fügt hinzu: „Doch die Natur der Moderne kann aus ihrem Schweigen nur dank allzu menschlicher Vermittlungen herausfinden, so dass von nun an mit dem Volk der Seelenlosen keinerlei Vertrag denkbar ist.“ Gleichzeitig sei der dualistische Naturalismus nicht etwa schlechter als der Analogismus, der Menschen kaum Freiheiten lässt.

Klare Positionen gehen hier und da hinter Descolas zahlreichen Typologien verloren. Der Autor erliegt einem Klassifikationszwang, hält sich aber mit normativen Empfehlungen stark zurück. Descola wirbt zum Beispiel für einen neuen Universalismus, der weder auf die globale Natur noch auf die mannigfaltige Kultur setzt, sondern vielmehr der Fülle der Beziehungen zwischen allen Wesenheiten Rechnung trägt. Leider gerät dieser Gedanke etwas in den Hintergrund. Doch dies tut der Bedeutung von Descolas Werk keinen Abbruch. Auch wenn die Tradition der strukturalistischen Anthropologie in Frankreich besser zu gedeihen scheint, sollten solche brillanten Analysen überall Echo finden. Im deutschsprachigen Raum lieber spät als nie.

Jenseits von Natur und Kultur. Von Philippe Descola. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Mit einem Nachwort von Michael Kauppert. Suhrkamp, Berlin, 2011.

Leben und Sterben in Amazonien. Bei den Jivaro-Indianern. Von Philippe Descola. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Suhrkamp, Berlin, 2011.