Blut und Geister
Wie ich vom Kind zum Mann wurde: Eine Erinnerung an die beiden Menschen, die mich am meisten prägten
Lang habe ich kaum an meine Mutter gedacht. Da ich so viele Jahre unter der Inkompetenz meines Vaters gelitten und gefürchtet hatte, eines Tages könnte mich aus dem Spiegel sein Ebenbild ansehen, vergaß ich, wie stark meine Mutter war, vergaß ihre scheue Fähigkeit, mit dem traurigen Einerlei eines fast unzumutbaren Alltags fertig zu werden. Heute schäme ich mich, dies zuzugeben, doch erst seit einigen Jahren, seit der Zeit, in der ich älter bin, als sie es je wurde, kann ich sie wieder deutlich sehen, nicht als das Salz der Erde, das fleißige, unverdrossene Frauchen der Arbeiterklasse, als das ich sie gern meinen Mittelklassekollegen beschrieb, sondern als die junge Frau, die für mich einmal der schönste Mensch der Welt war, jene Frau, die mir mit zerfledderten Ausgaben von Look and Learn das Lesen und später das Backen beigebracht hat, Mehl sieben am Samstag und Äpfel schälen in der dunstverhangenen Küche unseres Fertighauses am Rand von Cowdenbeath, während mein Vater vom Pub zum Buchmacher durch die Stadt stromerte und das bisschen Geld, das er in der Woche verdient hatte, für Gäule und Whiskey zum Fenster hinauswarf.
Mehl, getrocknete Erbsen und Linsen, Kartoffeln aus dem kleinen Garten und manchmal Himbeeren von den Rabatten stillgelegter Obsthöfe – davon haben wir uns überwiegend ernährt, bis meine Mutter mit der Tradition brach und sich selbst eine Arbeit suchte, dazu gelegentlich noch von ein paar Eiern unseres Nachbarn, Mr Kirk, die er mir gab, weil ich ihm mit den Hühnern half, und manchmal von Resten vom Schlachter, der seinen Laden am unteren Ende der Stenhouse Street hatte. Ein kühler, gefliester Raum, in dem frische Kadaver hingen, von denen dann und wann süßes Blut in dunklen Perlen auf den Sägemehlboden tropfte.
Ich habe Schlachter schon immer geliebt. Ich liebe ihr Handwerk, und ich liebe die Selbstverständlichkeit, mit der sie mit Stahl und Blut umgehen, vor allem aber liebe ich sie, weil sie so freundlich zu meiner Mutter waren, damals, in diesem kleinen Laden, als sie Knochen und Reste für „Tess“ beiseitelegten, damit Mutter sie einem Hund mitbringen konnte, den es nie gegeben hat. Es ist kein Klischee, wenn ich behaupte, dass meine Mutter eine stolze Frau war, aber sie hatte auch Kinder, und mit einem allzu spendablen Gelegenheitsarbeiter als Mann gab es immer wieder Zeiten, in denen sie eine freundliche Seele um eine milde Gabe bitten oder sie stillschweigend akzeptieren musste. Dennoch hat sie nie auch nur ein Jota ihrer angeborenen Würde preisgegeben, hat sich nie geziert, hat nie geflirtet, nie so getan, als wüsste sie nicht, was los war – und sie behandelte alle Welt jederzeit als ihresgleichen, auch wenn sie um noch so vieles reicher oder glücklicher sein mochte, als wir es waren.
Wenn ich heute an meine Mutter in ihren jüngeren Jahren denke (nicht zuletzt, um den Erinnerungen an das lebende Gespenst etwas entgegenzusetzen, zu dem sie wurde, ehe sie mit siebenundvierzig an Eierstockkrebs starb), weiß ich: Würden alle so leben wie sie, würden die Ungerechtigkeiten einer Klassengesellschaft nicht bloß fortdauern, sondern sich noch vervielfachen. Ich halte es mit Emerson, der jeden existierenden Staat korrupt fand und meinte, dass man dem zynischen Eigeninteresse der Schwachen und Habgierigen in den ‚höheren‘ Rängen der Gesellschaft nur mit permanenter Wachsamkeit begegnen könne sowie mit der Bereitschaft – bis es denn möglich wird, den Tempel selbst zu stürmen und die Tische der Geldverleiher umzustürzen –, diesen Ärschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen ordentlichen Tritt zu verpassen. Längst lässt sich nicht mehr übersehen, dass die Ärmsten jeden Tag ihres Lebens betrogen werden, manchmal auf höchst verblüffende Weise, und es wäre falsch, jene quietistische Haltung einzunehmen, zu der meine Mutter geraten hätte. Trotzdem wünsche ich mir, ich hätte von ihr außer Lesen und Backen auch ein wenig jener Kunst gelernt, die es ihr gestattete, Fremde mit demselben Respekt zu behandeln, den sie einem Bergmann oder Fabrikarbeiter entgegenbrachte. Allzu lang habe ich mich der Verbitterung des gesellschaftlich Untergeordneten, der weiß, dass er klüger als seine Oberen ist, hingegeben, einer Verbitterung von meinem Vater, der sein Leben lang einfacher Arbeiter, aber zehnmal intelligenter als seine Vorarbeiter war, wenn auch längst nicht so gerissen.
Es ist eine schwere Bürde, eine Last, doch kann ich sie ihm nicht zum Vorwurf machen, kenne ich doch die vielerlei Arten und Weisen, auf die er von der Welt drangsaliert und enttäuscht wurde; und wir sollten den Gestrauchelten nicht verurteilen, wenn doch deutlich ist, dass alles gegen ihn war. Ich wünsche mir nur, er wäre stark genug gewesen, diese bittere Gabe für sich zu behalten und seine Kinder mit leeren Händen in die trügerische Welt zu entlassen, wie es meine Mutter tat, damit wir bereit wären, es zu etwas zu bringen, bereit, auf die Gunst des Augenblicks zu hoffen und – sollte sich dieser Augenblick ergeben – bereit, ihn mit jenen zu teilen, die gerade zugegen sind.
Es kommt die Zeit, da dreht sich das innere Leben hauptsächlich um Erinnerungen. Die großen Liebschaften und Verletzungen gehören der Vergangenheit an, ebenso die Hoffnungen und Gebete, weshalb man nun dem Alltäglichen nachhängt, dem Detail, in dem die wahre Ordnung der Dinge fortdauert, so unbedeutend und maßgeblich wie die Blüte am Pflaumenzweig oder der Riss im Lack einer Imarischale auf einem alten Stillleben. Ich fürchte, diese Zeit kam für meine Mutter sehr früh, und ich meine mich zu erinnern, dass es eine Phase gab – ziemlich kurz, vielleicht ein, zwei Jahre –, in der sie dagegen aufbegehrte, dass ihr alles genommen werden sollte, zumindest musste es ihr wie alles vorgekommen sein.
Irgendwann dürfte sie geahnt haben, dass sie den falschen Mann geheiratet hatte, und auch wenn es wohl eine Weile dauerte, bis diese Ahnung zur unumstößlichen Gewissheit wurde, wird sie irgendwann zu dem Schluss gekommen sein, dass sie einen Fehler gemacht hatte, der sich nicht leicht korrigieren ließ. Scheidung war damals möglich, sogar für Katholiken, nur kam sie für meine Mutter nie in Frage: Dort, wo sie herkam, heiratete eine Frau fürs Leben und stand bedingungslos zu ihrem Mann. Außerdem hatte sie Kinder, und ich glaube nicht, dass sie je ernsthaft daran dachte, sie vaterlos zu machen. Allerdings bezweifle ich nicht, dass mein Vater uns verlassen hätte, wäre er von ihr dazu gedrängt worden; und schon mit etwa zwölf Jahren war ich mir sicher gewesen, dass wir ohne ihn besser dran gewesen wären.
Hin und wieder jedoch schlug ihr das Herz höher, und sie fand Anlass, glücklich zu sein. Das Problem war nur, dass Glück für sie etwas war, das andere Menschen einschloss. Sie wollte die schönen Augenblicke teilen, wollte sich im Zimmer umsehen und jemanden anlächeln, jemanden, der sich mit ihr freute – bloß weigerte sich mein Vater stets, dieser Mensch zu sein. Sooft sie auch einen Augenblick der Stille oder der Zufriedenheit heraufbeschwor, zuckte er bloß die Achseln oder wischte den Moment beiseite, verärgert, schien es, weil ihm derart Klägliches in dieser Welt geboten wurde, die ihm doch so viel schuldete. Gegen Ende seines Lebens, sagt meine Schwester, habe er eingesehen, welchen Kummer er ihr machte, doch glaube ich, er hat nie begriffen, wie sehr er meine Mutter gerade mit seiner Weigerung verletzte, in einer ungerechten Welt ein wenig mit ihr glücklich zu sein, und sei es nur für einen Moment.
Nichts tat ihr so weh, und irgendwann hat sie es nicht länger versucht; dann zog sie sich in sich selbst zurück, im Gesicht ein eigenartiges, nur angedeutetes Lächeln, den Blick in die Ferne gerichtet, so als schaute sie an uns allen vorbei auf etwas, das wir nicht sehen konnten. Eine Zeitlang fühlte ich mich traurig, wenn sie sich so davontreiben ließ, traurig und auch einsam, denn wie jedem Kind machte es mir Angst, nicht zu wissen, was meine Mutter dachte, und dabei zu spüren, dass sie so vollkommen in jene private Welt abtauchen konnte, die sie sich geschaffen hatte.
Ich habe keine Ahnung, was sie während jener Absenzen dachte oder träumte, doch weiß ich, dass sie ihr Kraft gaben – und ich sah, wie sie im Laufe der Jahre ein feines Gespür dafür entwickelte, ihre – und unsere – Welt durch kleine, doch bedeutsame Fantasieanstrengungen zu verändern: einen Nachmittag, wenn mein Vater außer Haus war, in einen Festtag zu verwandeln, unser Leben mit etwas Farbe oder Musik zu verschönern, neue Rezepte auszuprobieren, wenn Vater Nachtschicht hatte (er aß nichts als Variationen von Kartoffeln mit Fleisch), oder Freunde zu finden in der neuen Stadt in England, in die wir gegen unseren Willen zogen, als ich zehn Jahre alt war und sie, die außer ihrer Familie daheim nie Freunde gehabt hatte, noch drei Jahre vom vierzigsten Geburtstag trennten. Unser neues Leben gefiel ihr überhaupt nicht, uns ebenso wenig. Wir wohnten in einer grauen, von Sektierertum und altem Stammes-groll zerrissen Industriestadt, doch machte Mutter das Beste daraus und ich lernte, die Intensität ihrer Fantasiewelt zu schätzen.
Noch ein Jahrzehnt hielt sie an diesem Ort aus, eine Zeit, in der sie lernte, die Zuneigung neuer Arbeitskolleginnen und Nachbarinnen zu akzeptieren, die während ihrer langen Krankheit jeden Tag mit Neuigkeiten aus der großen Welt und Blumen kamen und deren Fürsorge meinen Vater verblüffte. Dabei interessierte sich Mutter stets mehr für ihre Gäste als für den eigenen Zustand: Sie wusste, dass sie unheilbar krank war, wollte aber nicht darüber reden, da sie zu Recht annahm, dass mein Vater ihr dies verschwieg und es nicht verkraftet hätte, wenn sie offen damit umgegangen wäre. Während all der Zeit blieb sie geduldig und auf jene schlichte Weise tapfer, die meist unbemerkt bleibt, im eigentlichen Sinne aber das Leben bejaht, das außerhalb des Krankenzimmers weiterging und unsere unbeholfenen Versuche, ihr Liebe zu zeigen und mit ihr zu reden, jene „Zärtlichkeit der Verdammten für das eigene Fleisch und Blut“, bestätigte. Manchmal, wenn ich abends lang an ihrem Bett saß, entglitt sie in die andere Welt, die sie sich geschaffen hatte, und wenn sie dann zurückkehrte, bemerkte ich in ihren Augen ein neues, wenn auch flüchtiges Licht, sobald sie sich zu mir umdrehte und sich zu fragen schien, wer ich denn sei, ehe sie schließlich ihren Sohn erkannte. Dann bat sie mich oft, ihr etwas zu holen, um mir, sobald die Kleinigkeit erledigt war, zu versichern, dass nun alles bestens sei, und mich fortzuschicken, damit ich eine Weile mein eigenes Leben lebte.
Ich weiß nicht, was es heißt, ein Mann zu sein, doch was ich darüber lernte, ein Mensch zu sein, weiß ich von meiner Mutter. Wir werden alle mit unseren Gaben geboren, die ein Fluch sein können oder ein Segen, doch was wir lernen, sind, wenn wir Glück haben, Fertigkeiten, die zu Tugenden werden, sofern sie unseren natürlichen Charakter zügeln. Zu den Gaben, die ich von meinem Vater bekam, gehören Hass auf Ungerechtigkeit und eine gewisse Launenhaftigkeit, die mich im besten Falle mit Ungeduld auf allzu bequeme Antworten und landläufige Weisheiten reagieren lassen, eine Ungeduld, die manchmal zu originellen Gedanken führt. Oft bekomme ich jedoch sinnlose Wutanfälle und öfter, als mir lieb ist, werde ich zu der Art Mann, die mein Vater war: verschlossen, von der Welt angewidert und rechthaberisch mit einer Neigung zu gewalttätigen Fantasien. Kann ich es jedoch zulassen, dann meldet sich Mutters Geist mit schlichter Tapferkeit, Respekt für andere Menschen und der Gabe, mit einem bisschen Fantasie die Lücken in einem beschädigten Leben zu füllen. Hat mein Vater mich zu einem Mann gemacht mit all den Fehlern, all der Unbeholfenheit, die damit einhergeht, dann wirkte meine Mutter gegen seinen Einfluss, indem sie mich lehrte, ein Mensch und auf meine Weise ein Künstler zu sein, so wie sie es auf ihre Weise war. Nichts ist vollkommen, hat sie oft gesagt, doch so sehr der Geist meines Vaters auch gegen die Unvollkommenheiten rebellieren mag, kann, was uns gegeben wurde oder wird, doch auch genug sein.