Georgien

„Wir waren immer Europa“

Die zunehmend prorussische Regierung in Georgien hat Ende 2024 die EU-Beitrittsgespräche ausgesetzt. Im Interview erzählt der georgische Aktivist Giorgi Kakabadze vom Kampf für eine europäische Zukunft seines Landes.

Studierende protestieren gegen Polizeigewalt auf dem Freiheitsplatz in Georgiens Hauptstadt Tbilisi im Oktober 2024.

Das Interview führte Mira Schwedes

Giorgi Kakabadze, Sie sind georgischer Aktivist, leben seit 2021 in Berlin und haben im Jahr 2023 das proeuropäische Georgische Zentrum im Ausland (GZA) mitgegründet. Würden Sie sich als ausländischen Agenten bezeichnen? 

Lacht–Im Sinne der neuen Gesetzgebung in Georgien, ja. Dort bin ich Vorstandsmitglied einer NGO und hier Teil des proeuropäischen GZA, das heißt ich bin sozusagen ein ‚Doppelagent‘. 

Wie geht es Ihnen in den letzten Tagen und Wochen?

Ich schlafe nicht viel. Ich arbeite, dazu kommt das freiwillige Engagement für GZA und dann trifft es mich natürlich persönlich, wenn ich diese Brutalität in Georgien sehe. Viele meiner Freund:innen sind dort auf der Straße und erzählen mir ihre Geschichten. Das erinnert mich an frühere Regierungen. Diese Erfahrungen mit Polizeigewalt gegen Demonstrierende haben wir bedauerlicherweise schon oft gemacht. Das heißt physisch geht es mir gut, aber geistig bin ich zum Teil in Georgien. Das ist schwer, besonders, wenn man nicht richtig helfen kann. 

Sie sagen, diese Erfahrungen sind für Sie nicht neu, Dinge wiederholen sich. Wann kam der Moment, in dem Sie entschieden haben: „Jetzt reicht es. Jetzt werde ich selbst aktiv.“

Ich war lange überhaupt kein Aktivist. Ich bin auf Demonstrationen gegangen, habe aber nie eine Rede gehalten oder etwas organisiert. 2021 bin ich nach Berlin gekommen, um meinen PhD in Geschichte zu machen und ein paar Monate später begann der Krieg in der Ukraine. Trotz der Proteste und der Solidarität der georgischen Bevölkerung mit der Ukraine hat sich die georgische Regierung zurückgehalten und versucht, nichts dazu zu sagen. Deshalb habe ich entschieden, zu demonstrieren. Wir haben mit einigen Freund:innen vor der georgischen Botschaft begonnen, am Anfang mit 15, 20 Menschen, manchmal weniger. Später haben wir auch bei ukrainischen Demos Reden gehalten, um unsere Solidarität zu zeigen.

Ein Jahr später wurde dann der erste Entwurf des sogenannten „Agentengesetzes“ in Georgien vorgestellt. In Georgien hat der Begriff „Agent“ aufgrund der sowjetischen Vergangenheit eine ausschließlich negative Konnotation und wird gleichbedeutend mit „Spion“ verstanden. Das Gesetz zielt darauf ab, NGOs und Medien, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als „Agenten ausländischer Mächte“ zu registrieren. Das ermöglicht es den Behörden unter anderem, auf Grundlage anonymer Hinweise NGOs ohne gerichtliche Kontrolle zu untersuchen.

In diesem Moment haben wir erkannt: Das ist nicht die letzte Bombe, die uns die georgische Regierung auf dem Weg nach Europa in den Weg legt. Wir müssen uns organisieren. Also haben wir das Georgische Zentrum im Ausland gegründet. GZA – das heißt auf Georgisch: „Der Weg“.

Was sind die Hauptanliegen des GZA? 

Zuallererst ist da das Ziel, Georgien einem breiten Publikum zugänglicher zu machen, über das moderne Georgien zu reden und zu schreiben. Das GZA will dafür einen eigenen Diskurs schaffen – einen „Diskurs von unten“, der die Perspektiven und Stimmen der georgischen Zivilgesellschaft einbringt. Unser zweites Ziel ist es, die russische Propaganda zu durchbrechen und Missverständnissen entgegenzuwirken. 

Ein Beispiel aus meiner Studienzeit in Jena: Wenn ich damals erzählt habe, dass ich aus Georgien komme, wurde ich oft gefragt: „Bist du russisch?“ „Nein.“ „Sprichst du Russisch?“ „Nein.“ „Aber zumindest schreibt ihr kyrillisch!“ „Nein.“ Und dann lag es bei mir, das zu erklären. Ein anderes weit verbreitetes Klischee ist, dass die Georgier:innen Kriminelle sind. Diese Vorurteile wollen wir überwinden. Das dritte Ziel ist, eine georgische Diaspora-Community aufzubauen und das vierte betrifft das akademische System in Deutschland, denn auch dort fehlt Wissen über Georgien. Das letzte und wichtigste Ziel ist es, Georgier:innen mit Deutschen auf Augenhöhe zusammenzubringen und Berührungsängste abzubauen, die oft durch fehlendes Wissen und Missverständnisse entstehen.

Wie sieht Ihre Arbeit im Anblick der aktuellen Entwicklungen wie der Wahl im Oktober und den anhaltenden Protesten aus?

Nach den Wahlen waren wir alle erstmal unter Schock. Dann haben wir begonnen, uns zusammen mit anderen Initiativgruppen zu organisieren. Gemeinsam haben wir in über 40 Städten auf der ganzen Welt bei Demonstrationen mitgewirkt und zusammen Forderungen geschrieben. Wir haben uns mit vielen deutschen Politiker:innen getroffen, ihnen die Situation erklärt und E-Mails an Parteien geschrieben.

Erfolgreich?

Bei der vorletzten Demonstration waren acht Bundestagsabgeordnete mit dabei. Die haben sehr gute Reden gehalten und Unterstützung für unsere Ziele gezeigt. Nur wenn es um konkrete Schritte geht, passiert irgendwie nichts. Es ist schön zu sehen, dass aktuell mehr über Georgien geschrieben und berichtet wird, aber wenn es dann zum Handeln kommt, passiert nicht viel.

Unterstützung muss jetzt von Politiker:innen kommen. Die georgische Zivilgesellschaft hat gezeigt, dass sie für Europa kämpft–für Europa als Idee der Freiheit und der Solidarität. Jetzt stehen die Menschen mit bloßen Händen da und das ist nicht genug. 

Was fordern Sie von der Politik?       

Die georgische Regierung hat gezeigt, dass sie kein Gewissen mehr hat und es keine rote Linie für sie gibt. Menschen, die für die Gewalt verantwortlich sind und gegen die Verfassung verstoßen, sollten sanktioniert werden. Etwa mit Einreiseverboten und finanziellen Sanktionen. Es muss deutlich werden, dass Europa den Kampf der Georgier:innen für eine europäische Zukunft unterstützt. Wir waren immer Europa und deswegen brauchen wir jetzt die Hilfe der großen europäischen Familie. 

Wie wird Ihre Arbeit in Ihrer Heimat wahrgenommen?

Seitdem ich so aktiv in die Prozesse hier involviert bin, war ich selbst nicht mehr in Georgien. Aber andere Mitglieder unserer Organisation haben davon berichtet, dass wir auf den Straßen dort mittlerweile bekannt sind. Dinge wie unser Marsch in Berlin sind zu einem wichtigen Thema geworden. Wenn ich mich als Historiker ein bisschen von diesem Prozess distanziere, dann sehe ich, dass die georgische Diaspora noch nie so vereint war wie jetzt. Das gibt auch den Menschen in Georgien Kraft, zu sehen, dass die Georgier:innen, die im Ausland wohnen, diesen Kampf mitleiden und ihre Stimme in Europa so laut gemacht wird.

Wären Sie jetzt lieber in Georgien?

Ich würde das gerne erleben, jetzt dort zu sein, diese Stimmung mitzubekommen und mitzuwirken, aber das kann auch gefährlich sein. In den letzten Jahren, wenn es Proteste gab, wurden Demonstrierende oft über ihre persönlichen Nummern angerufen und mit schrecklichen Worten beschimpft und bedroht. Wir gehen davon aus, dass die Anrufer von der Regierung beauftragt wurden, zur Einschüchterung. Das können wir aber natürlich nicht beweisen. Im Laufe der letzten sechs Monate habe auch ich solche Anrufe bekommen, das macht teilweise schon Angst.

In der Berichterstattung der letzten Tage wird immer häufiger von der ‚Ausweglosigkeit‘ der Situation geredet. Was macht Ihnen aktuell noch Hoffnung?

Natürlich, wenn einen Monat lang Proteste laufen, dann denkt man sich irgendwann: „Vielleicht sind wir hilflos“. Aber die Proteste gehen weiter. Die Aktivist:innen stehen jeden Tag da und werden nicht aufgeben. Obwohl die aktuelle Lage nicht gut ist für Georgier:innen, möchten die Menschen weitermachen. Sie gehen auf der Straße spazieren, in dem Versuch kreative und friedliche Formen der Demonstration zu finden. Sie spazieren überall!

Dabei ist die Sprache ein sehr wichtiges Instrument für uns, das es ermöglicht, trotzdem Witze über die Regierung zu machen und zu zeigen: „Ihr könnt nichts machen, denn wir werden darüber lachen.“ Dass die Menschen dazu fähig sind, das gibt mir Hoffnung. 

Was sind Ihre Wünsche für das neue Jahr 2025?

Ich möchte in Frieden leben–das heißt ohne Angst vor Russland in einer demokratischen, friedlichen Umgebung.  Ich wünsche mir, dass aus diesem Prozess in Georgien eine neue Partei entsteht, die keine so schlechte Vergangenheit hat, wie die jetzige Opposition und die Regierungspartei. Ich wünsche mir ein Aufwachen in den europäischen Ländern, damit die Anliegen kleinerer Länder und ihrer Bevölkerungen endlich gehört und berücksichtigt werden und die demokratischen Länder sich für die Verteidigung der Demokratie einsetzen. Und ich wünsche mir von den Journalist:innen hier eine ehrliche Berichterstattung über die Gewalt gegen Demonstrierende und Journalist:innen auf den Straßen Georgiens.

Ich bin ein sehr optimistischer Mann, deswegen glaube ich daran, dass wir diesen Kampf für eine europäische Zukunft gewinnen werden. Ich habe viele Freund:innen, die an der ersten Linie der Demonstrationen stehen, auf sie bin ich sehr stolz. Ich versuche von hier aus mitzuwirken und hoffe, dass wir mehr gehört werden als jetzt.