Dokumentarfilm | Westjordanland

Szenen eines unerträglichen Alltags

„No Other Land“ dokumentiert das Leben der Menschen in Masafer Yatta und ihren Kampf gegen die Vertreibung aus ihrem Zuhause im Westjordanland. Jetzt ist der Film in deutschen Kinos zu sehen. Eine Rezension
The picture shows the two directors Yuval Abraham and Basel Adra. They look at each other. The hills of the West Bank can be seen in the background.

Die Regisseure Yuval Abraham (rechts) und Basel Adra (links) sind auch die Protagonisten von „No Other Land“

Ein weißes Auto fährt über leere Straßen im Westjordanland. In dem Fahrzeug sitzen zwei junge Männer, sie unterhalten sich. Der Mann auf dem Beifahrersitz nickt kurz weg. Fast könnte die Szene friedlich wirken, aber es handelt sich um eine Momentaufnahme, eine Ausnahme. Wenige Kilometer weiter muss der Augenblick enden, dort dürfen sie nicht mehr gemeinsam in dem Auto fahren – denn der eine ist Israeli, der andere Palästinenser.

„No Other Land“ ist ein Film über Ungleichheiten im Öffentlichen wie im Privaten, über Ungleichheiten, die sich selbst in Details wie den Nummernschildern der Regisseure niederschlagen. Der Dokumentarfilm zeigt das Leben in Masafer Yatta, eine Gruppe palästinensischer Dörfer im Westjordanland. Der Alltag der Menschen hier ist vom jahrzehntelangen Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die Vertreibung durch das israelische Militär geprägt. In den 1980er Jahren wurden große Teile der Region zu einer geschlossenen militärischen Übungszone erklärt, schon damals begann die Zwangsräumung der Orte.

Der palästinensische Regisseur und Journalist Basel Adra erinnert sich zu Beginn des Films an seine Kindheit in Masafer Yatta: wie er in einer aktivistischen Familie aufwuchs, wie sein Vater das erste Mal inhaftiert wurde, und wie er selbst begann, die Geschehnisse mit einer Kamera zu dokumentieren. Diese unscharfen und oft verwackelten Aufnahmen bilden zusammen mit aktuellem Filmmaterial die Grundlage des Dokumentarfilms.

„Die Aneinanderreihung dieser gewaltvollen Szenen ist schwer zu ertragen, spiegelt aber genau dadurch die Alltäglichkeit und die Ausweglosigkeit der Situation der Dörfer wider“

Eine Stunde und fünfunddreißig Minuten begleiten wir den aussichtslosen Zyklus des Lebens in Masafer Yatta: Tagsüber reißt das israelische Militär Gebäude ab, nachts bauen die Einwohner des Dorfes Strukturen wieder auf, die nur wenige Tage später erneut von den Streitkräften zerstört werden. Die Räumungen wurden unter anderem von der UN und der EU als völkerrechtswidrig verurteilt, doch das Oberste Gericht Israels entschied im Mai 2022 nach jahrelangem Rechtsstreit, dass der Abriss weitergehen dürfe.

Ein Kind läuft über die Ruinen eines abgerissenen Gebäudes. Im Hintergrund sind die Ruinen von Häusern und Hütten zu sehen. Das Kind steht mit dem Rücken zur Kamera und trägt eine rote Hose und einen roten Pullover.

Immer wieder werden Häuser durch das israelische Militär geräumt und zerstört

Die ohnehin schon harten Bilder werden im Laufe des Films durch Aufnahmen der zunehmend ausartenden Gewalt ergänzt, die israelische Siedler gegen palästinensische Anwohner ausüben. Große Gruppen von teils vermummten Männern werfen Steine auf Häuser und Menschen, begleitet von Soldaten und Soldatinnen. Die Aneinanderreihung dieser Szenen ist schwer zu ertragen, spiegelt aber dadurch sehr deutlich wider, wie alltäglich die Gewalt ist und in welcher ausweglosen Situation sich die palästinensische Bevölkerung befindet.

„Der Film zeigt auch die Ausmaße des Ungleichgewichts der Macht zwischen den beiden Freunden“

Doch „No Other Land“ erzählt auch die Geschichte einer Allianz und einer Freundschaft: Adra lernt den israelischen Journalisten und Friedensaktivisten Yuval Abraham kennen. Beide wollen die Situation in Masafer Yatta dokumentieren, um die endgültige Zerstörung der Dörfer zu verhindern.  Zusammen mit der israelischen Regisseurin Rachel Szor und dem palästinensischen Fotografen Hamdan Ballal drehte das vierköpfige Regie-Team von 2018 bis 2023 den Film, in dem Adra und Abraham gleichzeitig auch die Rollen der Protagonisten einnehmen.

In dieser Konstellation wird besonders sichtbar, wie ungleich die Lebenschancen zwischen beiden verteilt sind. Wieder ist es das Mittel der Wiederholung, das die Unterschiede in ihren Lebensrealitäten unterstreicht. So endet schließlich jede gemeinsame Fahrt auf die gleiche Art und Weise: Abraham verabschiedet sich von Adra und verlässt Masafer Yatta in seinem Auto mit einem gelben, israelischen Kennzeichen in Richtung Jerusalem. Adra bleibt zurück. Die Freiheiten, die dieses Kennzeichen seinem Freund und Kollegen beschert, bleiben ihm verwehrt, denn die Autos der Menschen in Masafer Yatta tragen grüne, palästinensische Kennzeichen.

Aber Abraham kehrt wieder und Adra empfängt ihn erneut. Die beiden machen trotz aller Widerstände und Gefahren weiter. Die Resilienz, mit der sie diese strukturellen Ungleichheiten aushalten, bildet auch einen starken Kontrast zum zunehmend gespaltenen deutschen Diskurs.

Im Februar 2024 gewann der Film auf der Berlinale den Preis für den besten Dokumentarfilm und erhielt besonders für die Rede von Adra und Abraham viel Aufmerksamkeit. Die beiden nutzten die Bühne, um auf den Krieg in Gaza und die massive Benachteiligung der Palästinenser und Palästinenserinnen aufmerksam zu machen. Dass sie dabei die Worte „Massaker“ und „Apartheid“ benutzten, wurde vielfach kritisiert und diskutiert. Der Fokus auf den Inhalt des Films ging dabei beinahe vollständig verloren.

Monate später, am Abend der Kinopremiere im Babylon-Kino im November in Berlin, zieht Basel Adra, zugeschaltet aus seinem Zuhause, ein ernüchterndes Fazit: „‚No Other Land‘ ist international zwar sehr erfolgreich, aber vor Ort in Masafer Yatta ändert das nichts, die Situation hier wird immer schlimmer.“

Heißt das, es ist im Grunde sinnlos den Film anzusehen? Mitnichten. Er ist ein mutiges Mahnmal dafür, dass man genau wie die beiden Regisseure nicht aufhören darf, hinzusehen und Konflikt und Widerspruch zu ertragen.