Ein Haus des Verlustes
Im Garten des Nationalen Holocaust-Museums in Amsterdam stehen vier junge Gingko- und Olivenbäume, Symbole der Widerstandskraft der niederländischen Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben. Angepflanzt wurden sie von einigen älteren Jüdinnen und Juden (und ihren Kindern und Enkelkindern). Sie waren einst Teil einer Gruppe von insgesamt 600 Kindern, die während der deutschen Besatzung aus diesem Gebäude – damals eine Kinderkrippe – in ein sicheres Versteck geschmuggelt wurden und so überlebt haben.
Gegenüber befindet sich die Hollandsche Schouwburg. Die Nazis nutzten das Theater als Sammelstelle für Jüdinnen und Juden. Hier wurden insgesamt 46.000 Menschen festgehalten und dann in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.
Drei Viertel der jüdischen Bevölkerung der Niederlande wurden während des Holocausts ermordet. Und doch hat es achtzig Jahre gedauert, bis man ein Museum konzipierte, in dem die Geschichte von Unterdrückung, Isolation und Mord derart zusammenhängend erzählt wird. Emile Schrijver, Generaldirektor des neu eröffneten Hauses, ist indes überzeugt, dass es diese historische Distanz war, in Verbindung mit einer bewussten Erzählweise, die das erste einer neuen Generation von Holocaust-Museen ermöglicht haben.
„Wir haben bewusst versucht, eine neue Art von Holocaust-Museum zu schaffen“
Es ist eine Geschichte, die man in den Niederlanden der Nachkriegszeit eher nicht hören wollte, als man sich auf erbauliche Erzählungen über den Widerstand und die eigene Toleranz fokussierten. Tatsächlich gab es Widerstand und außerordentliche Zivilcourage, doch es gab auch Menschen, die Juden denunzierten; niederländische Verkehrsunternehmen, die für die Nazis Deportationen durchführten und damit Geld verdienten; normale Menschen, die sich die Häuser und den Besitz ihrer jüdischen Mitbürger aneigneten. Und sehr viele, die einfach wegschauten. Wie lässt sich diese grauenvolle Geschichte so erzählen, dass statt Leugnung und Scham Empathie und Menschlichkeit entstehen?
„Wir haben bewusst versucht, eine neue Art von Holocaust-Museum zu schaffen, eines, das auch für die Zukunft relevant ist“, betont Schrijver. Zunächst einmal sei entscheidend gewesen, dass die ehemalige Krippe wie auch das Theater reale Orte des Geschehens gewesen seien, so der Museumsdirektor. Zwar beherbergte die Hollandsche Schouwburg schon lange eine kleine Gedenkausstellung.
Doch Anfang des 21. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass es an der Zeit sei, die schmerzvolle Kriegsgeschichte umfassender zu erzählen: „Meinen Vorgängern war bei dem Thema unwohl zumute. Sie meinten, es bestehe die Gefahr, dass die niederländisch-jüdische Geschichte nur auf diese fünf Jahre der Katastrophe reduziert werde – und das wollten sie nicht. Doch es führte kein Weg daran vorbei“, so Schrijver. „Es war an der Zeit, dass sich eine dritte und heranwachsende Generation mit dem Thema befasst. Uns war von Anfang an sehr wichtig, dass sich das Museum in jüdischem Besitz befindet. Allen war bewusst, dass es ein großes Unterfangen war.“
Laut einer Machbarkeitsstudie von 2012 kam das ehemalige Auffanglager im Theater als Standort für ein großes Holocaust-Museum nicht in Frage. Die Stadt Amsterdam erwarb schließlich eines der Gebäude gegenüber – einst der Kindergarten, aus dem Kinder gerettet wurden. 2015 kündigte das Jüdische Kulturviertel, der heutige Betreiber des Museums, die Gründung eines nationalen Schoah-Museums an.
In den folgenden Jahren dienten temporäre Ausstellungen im ehemaligen Schulgebäude als Testlauf, wie sich Geschichten der Schoah einem jüngeren Publikum am besten vermitteln lassen. „Die Frage war: Warum jetzt, so lange danach?“, berichtet Schrijver. „Die Antwort lautet: weil es kein solches [nationales Holocaust-Museum] gab, aber auch, weil dieses Ereignis die westliche und niederländische Gesellschaft in Bezug auf Trauma, Raubkunst, Psychologie, Rechtsfragen und sogar die schreckliche Völkermorddiskussion, die wir gerade [in Bezug auf Israel] führen, geprägt hat. Der Begriff des Völkermords wurde nach dem Holocaust formuliert.“
Während der Coronapandemie begannen sich Ideen zur Gestaltung des Museums und der Gedenkstätte herauszukristallisieren. Gleichzeitig wurde durch eine Fundraisingkampagne und eine Zusage der niederländischen Regierung die Finanzierung gesichert.
„Meine Vorgänger sahen die Gefahr, dass die niederländisch-jüdische Geschichte nur auf diese fünf Jahre der Katastrophe reduziert werde – und das wollten sie nicht“
Die Neugestaltung betraf nicht nur das Hauptgebäude des Museums, sondern auch die Architektur der Hollandsche Schouwburg. Anstelle einer Rekonstruktion der Innenräume befindet sich hinter deren historischen Fassade nun ein weitgehend leerer Raum der Erinnerung und der Reflexion. In seinem Zentrum der Schouwburg steht ein Obelisk als Mahnmal für die Ermordeten; an den Wänden hängen Glaselemente in Tropfenform, aus denen die Geschichten der hierher gebrachten Menschen tönen, Auszüge aus Abschiedsbriefen, Telegrammen oder Tagebüchern.
Auch die Fassade der Schule auf der anderen Straßenseite ist unverändert geblieben. Die Stelle, an der die Kinder aus dem Kindergarten über den Zaun gereicht und so gerettet wurden, ist mit jenen bereits erwähnten Bäumen markiert, die durch große Fenster von den Ausstellungsräumen aus sichtbar sind. „Das Publikum soll sich der Tatsache bewusst sein, dass dies der Ort des Geschehens war“, sagt Schrijver, „aber wir wollten auch mit der Tradition brechen, dass Holocaust-Museen düstere Orte sind.“
Im Museum selbst besteht ein deutlicher Gegensatz: zwischen lichten Räumen und einem, der mit Verordnungen über den Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben tapeziert ist und Beklemmungen auslöst. Licht und Reflexion waren symbolisch und architektonisch wichtig. „Wenn wir andere Holocaust-Museen besuchen, dann spielen diese häufig mit unseren Gefühlen, indem sie uns sozusagen in eine dunkle Gasse drängen, in der wir uns unwohl fühlen. Dabei wissen wir noch gar nicht, worum es in dem Museum überhaupt geht“, so Schrijver. „Für mich war ein lichtes Museum das Wichtigste. Wir nennen es ein Haus des Verlustes. Das ist etwas anderes als ein Haus des Schreckens.“
„Wenn es das Ziel der Nazis war, die Menschen zu entmenschlichen, sollte es das Ziel unseres Museums sein, sie wieder menschlich zu machen.“
„Wir konzentrieren uns auf die Leben der einzelnen Menschen, ihre individuellen Schicksale: Diese wurden von den Nazis verfinstert, aber die Opfer führten nicht von Vornherein und immer ein Leben in der Düsternis. Wenn man etwa ein Spielzeug sieht und sich bewusst macht, dass das Kind, dem es gehörte, im Alter von vier Jahren getötet wurde, braucht man kein dunkles Ausstellungsdesign, um zu verstehen, dass es sich um ein düsteres Kapitel der Geschichte handelt.“
So zeigt das Museum zwar das Foto einer furchtbaren Szene, eines kleinen Jungen, der in Bergen-Belsen an Leichenhaufen vorbeigeht, aber eben auch ein Porträt seiner Familie und eines der Kunstwerke, die er als Erwachsener geschaffen hat. Damit vermeiden es die Kuratoren bewusst, sein Leben auf das eines Opfers zu reduzieren. „Als jüdisches Museum haben wir die moralische Pflicht, uns immer der Würde des Opfers bewusst zu sein“, erklärt Schrijver. „Die Leute haben uns kritisiert, weil sie eine Kiste mit Schuhen und eine andere Kiste mit Haaren erwarteten. Aber ein Aspekt der Dauerausstellung, den wir zentral finden, ist der folgende: Wenn es das Ziel der Nazis war, die Menschen zu entmenschlichen, sollte es das Ziel unseres Museums sein, sie wieder menschlich zu machen.“
„Das passiert mit Menschen, wenn wir es vergessen, die anderen als Menschen zu wahrzunehmen“
In diesem „schuldigen Gebäude“ – das Zeuge der Ereignisse war – ist auch die verwendete Sprache sehr wichtig. Zwar gehört die Geschichte von Anne Frank wegen ihres Tagebuchs und seiner Veröffentlichung zu den weltweit bekanntesten über den Naziterror. Aber jene der niederländischen Kollaboration insgesamt war vor der Gründung des Museums nicht vollständig aufgearbeitet worden.
„Auf der Textebene beschönigen wir nichts“, so Schrijver. „Wir verwenden keine Sprache, die das Geschehen verschleiert, wir verzichten auf Euphemismen: Wir haben uns für eine sehr klare, sehr sachliche Sprache entschieden.“ So verwendet das Museum etwa anstelle von indirekten Formulierungen wie „hat nicht überlebt“ das Wort „ermordert“. Auf einer Beschreibungstafel heißt es: „Während des Krieges kehrten die jüdischen Kinder, die einst in der Krippe betreut wurden, zurück, als das Gebäude zum Deportationszentrum wurde. Alle Kinder auf den Fotos wurden ermordet“.
Ein weiterer wichtiger Aspekt beim Aufbau eines zukunftsweisenden Holocaust-Museums war die Tatsache, dass man zwar in engem Austausch mit Überlebenden stand, das Ganze aber nicht von ihnen gestaltet wurde: Man wollte eine nationale Geschichte für alle Niederländer, für alle Besucherinnen und Besucher erzählen. In den letzten Räumen werden sie dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, was heute geschieht, wenn wir andere ausgrenzen, zum Sündenbock machen und entmenschlichen.
„Dies ist wirklich ein Holocaust-Museum der nächsten Generation“, so Schrijver. „Wir haben eine neuartige Perspektive gewählt. Es gilt nicht nur ‚Nie wieder‘, sondern auch: Das passiert mit Menschen, wenn wir vergessen, die anderen als Menschen zu sehen. Das ist ein völlig anderer Ansatz.“