„Die Zukunft ist gecancelt“
Interview von Sophie Tiedemann
Herr Gospodinov, in Ihrem Roman „Zeitzuflucht“ (auf Deutsch erschienen 2023) schreiben Sie über „Kliniken der Vergangenheit“, die Demenzkranken einen sicheren Ort in ihren eigenen Erinnerungen schenken möchten. Schließlich werden die Kliniken so erfolgreich, dass auch Gesunde sich anmelden, um der Gegenwart zu entkommen. Was ist der Unterschied zwischen einer berechtigten Sehnsucht nach besseren Zeiten und Nostalgie, die oft propagandistisch genutzt wird?
Ich habe angefangen, Bücher zu schreiben, weil ich verstanden habe, dass die Vergangenheit als politische Waffe genutzt werden kann. Für Menschen ist es normal, täglich unzählige Male in frühere Zeiten abzutauchen. Man besucht die Räume der Vergangenheit – und kehrt wieder zurück in das Hier und Jetzt. Das Problem entstand in dem Moment, als das Vergangene zur Propaganda wurde.
In meinem Roman ist die Ursprungsidee, Demenzkranken einen Raum synchron zu ihrer inneren Zeit zu schenken. Doch das entwickelt sich schnell zu einem Businesskonzept. Die Menschen, die das ausnutzen, nenne ich in meinem Buch „Händler der Vergangenheit“. Sie erfinden eine kollektive, vermeintlich glorreiche Vergangenheit und wollen sie uns so verkaufen: „1970 war großartig, alle Menschen waren glücklich und sind ans Meer gereist. Lasst uns dorthin zurückkehren.“ Das ist eine Ideologie.
„1970 war großartig, alle Menschen waren glücklich und sind ans Meer gereist. Lasst uns dorthin zurückkehren“
In dem Buch stimmt schließlich jedes europäische Volk per Referendum ab, in welches Jahr des 20. Jahrhunderts es zurückkehren möchte.
Die große Falle ist: Persönliche Zeit ist irreversibel. Du wirst niemals wieder zwanzig Jahre alt sein. Aber politische Zeit ist sehr wohl reversibel. Wir können den Totalitarismus unseres Landes hinter uns lassen und drei Generationen lang in einer Demokratie leben. Aber dann können wir auch wieder zurückkehren.
Auch Plattformen wie TikTok sind heute Schlachtfelder der Erinnerung. Dort gehen etwa Videos mit Reden des einstigen bulgarischen kommunistischen Diktators, Todor Schiwkow, viral. Bieten die sozialen Medien einen neuen Ort für alte autoritäre Sehnsüchte?
Eigentlich ist der Sinn von Erinnerung, das Jetzt von Früher zu trennen. Doch wer seine Erinnerung verliert, der wird von seiner Vergangenheit immer wieder eingeholt werden. Ich denke, wir leiden an einer Art sozialer Demenz. Einerseits leben wir in alternden Gesellschaften. Andererseits verlieren wir die letzten Zeitzeugen, die uns etwa vom Zweiten Weltkrieg erzählen können.
Bei den sozialen Medien kommt hinzu, dass sie mit dem Kurzzeitgedächtnis arbeiten. Sie schaffen eine Erinnerung, die äußerst flüchtig ist. Literatur oder Philosophie hingegen arbeiten mit dem Langzeitgedächtnis. Aber das verlieren wir, weil wir heute ganz anders lesen: nicht mehr horizontal, sondern scrollend vertikal.
„Die sozialen Medien arbeiten mit dem Kurzzeitgedächtnis. Sie schaffen eine Erinnerung, die äußerst flüchtig ist“
Außerdem „erinnern“ sich junge Menschen durch solche Videos an Dinge, die es vielleicht so nie gegeben hat, an eine vermeintlich glorreiche bulgarische Geschichte. Deshalb muss man sich die Frage stellen, woher man seine Erinnerung bezieht: aus authentischen Erzählungen vergangener Generationen? Oder von den Händlern der Vergangenheit?
Populisten nutzen solche Nostalgie für ihre aktuelle politische Agenda aus. Andererseits berichteten Sie einst in einem Interview von einer Kultur des Schweigens in Bulgarien, die noch aus der Zeit der kommunistischen Diktatur stammt.
Leider haben wir den Moment für wichtige gesellschaftliche Gespräche in Bulgarien schon 1989 verpasst, als das kommunistische Regime fiel. Damals hätten wir direkt anfangen müssen, über die Vergangenheit zu sprechen. Uns wurde gesagt: „Das ist nicht so wichtig, wir müssen uns jetzt auf die Zukunft konzentrieren!“
Kurz nach dem Zusammenbruch des Regimes waren wir noch sicher, dass die Zukunft nur in eine Richtung verlaufen wird. Die westliche Welt dachte, sie sei der Gewinner, und so wird es für immer bleiben. Und wir Osteuropäer dachten: Wir wollen wie sie sein! Mit den Populisten von heute haben wir nicht gerechnet. Wir fingen erst spät an, Erinnerungen zu sammeln und Diskussionen zu führen. Bis heute gibt es in Bulgarien kein Museum über die sozialistische Vergangenheit.
„Leider haben wir den Moment für wichtige gesellschaftliche Gespräche in Bulgarien 1989 verpasst, als das kommunistische Regime fiel“
Ist es als Gesellschaft denn überhaupt möglich, sich auf eine gemeinsame Erzählung über die eigene Geschichte zu einigen?
So etwas gibt es nur in totalitären Regimen. Aber meine Hoffnung ist, dass wir in einen friedlichen Austausch verschiedener Erzählungen treten können. Der ist leider mittlerweile in zahlreichen europäischen Gesellschaften zusammengebrochen. Das bedeutet: Wir leben in ganz unterschiedlichen Narrativen – und Vergangenheiten. Die unverarbeitete Vergangenheit kehrt immer wieder zurück. Sie ist wie ein Imperium.
Und weil wir in den 1990er-Jahren die wichtigen Gespräche über unsere Vergangenheit nicht geführt haben, befinden wir uns nun im Griff unserer eigenen Geschichte. Auch das ist ein weltweites Phänomen.
„Eine Idee, die uns nervös macht: Wir können uns die nächsten zwanzig Jahre nicht mehr vorstellen“
Ich habe einen Essay veröffentlicht, der den Titel trägt: „Die Zukunft ist gecancelt“. Eine Idee, die uns nervös macht: Wir können uns die nächsten zwanzig Jahre nicht mehr vorstellen. Als ich jung war, hieß es: In dreißig Jahren wird jede Krankheit geheilt werden können und wir werden auf dem Mond landen.
Wir haben die Klimakrise, in direkter europäischer Nachbarschaft herrscht Krieg. Ist die Zukunftslosigkeit das prägende Merkmal heutiger europäischer Gesellschaften?
Die Zukunft ist wichtig, um einen Sinnhorizont zu haben. Und ja, in dieser Hinsicht befinden wir uns in einer Sinnkrise. Wenn ich weiß, von hier an habe ich zehn gute Jahre, dann kann ich gut und sorglos leben.
Wenn ich wiederum weiß, dass jeden Tag ein Krieg ausbrechen könnte, dann verhalte ich mich sehr anders. Das nutzen Populisten aus: Sie schaffen gezielt eine apokalyptische Atmosphäre.
Am 7. November versuchten aufgebrachte Nationalisten, das Nationaltheater in Sofia zu stürmen. Der Grund: Das dort aufgeführte Stück, „Helden“, verunglimpfe mit seiner Erzählung über den serbisch-bulgarischen Krieg 1885 angeblich die bulgarische Geschichte.
Das Stück wurde schon vor vielen Jahren veröffentlicht. Wenn man es sorgfältig liest, erkennt man auch, dass es in jedem Land dieser Welt spielen könnte. Das Besorgniserregende daran ist, wie leicht es mittlerweile ist, Menschen dazu zu bringen, solche Dinge zu tun.
„Wenn ich weiß, dass jeden Tag ein Krieg ausbrechen könnte, dann verhalte ich mich anders. Das nutzen Populisten aus: Sie schaffen gezielt eine apokalyptische Atmosphäre“
Ich lese sehr gerne den Zauberberg von Thomas Mann. Eines der Kapitel trägt den Titel „Die große Irritation“. Diese Irritation war typisch für die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In solch einer Atmosphäre ist es einfach, Menschen simple Ideen zu verkaufen, wie: Die kulturelle Elite ist gegen euch, das einfache Volk. Die Eskalation beginnt mit Büchern, Theaterstücken, Gemälden.
Für mich ist das wirklich schwer zu verstehen – sowohl als Schriftsteller als auch als Europäer. Mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hinter uns und so viel Kultur: Wie können solche Dinge noch einmal passieren?
Die derzeitige gesellschaftliche Stimmung ist mit einem nervösen Schlaf am Morgen vergleichbar. Mit jener Phase, in der die meisten Albträume auftreten. Um den spanischen Maler Francisco Goya zu zitieren: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Wir können heute sagen: Der Schlaf der Gesellschaften gebiert Populisten.
Was könnte ein Gegenmittel sein – und welche Rolle spielt Kultur?
Es braucht Bildung, Erinnerung, Literatur – und guten Geschmack. Denn guter Geschmack bezieht sich nicht auf eine ästhetische Idee. Er ist eine Art des Widerstands gegen den Kitsch des Nationalismus.