Pressefreiheit | Gaza

Alles ist in Unordnung, sogar meine Gedanken

Unser Autor ist ein palästinensischer Journalist, dem einige Monate nach Beginn des Krieges in Gaza und Israel die Flucht aus dem abgeriegelten Gaza-Streifen gelang. Im ägyptischen Exil ist er nun zwar in Sicherheit, doch seine Arbeit als Journalist ist weiter gefährdet
Dekorative illustration mit halb verborgenen Texten in Englisch und dem Schriftzug „EXIL“

In unserer Serie „Aus dem Exil“ schreiben Journalisten und Autorinnen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil sie dort nicht mehr sicher arbeiten können. Wozu können sie erst jetzt Stellung beziehen, und wie verändert das Leben im Ausland ihre Arbeit?

Um diese Fragen geht es in den Texten, die einmal im Monat sowohl in der Sprache der Mitwirkenden als auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Das Format entstand in Zusammenarbeit mit der Organisation JX Fund, die Medienschaffende nach der Flucht aus Kriegs- und Krisenregionen unterstützt, sowie dem CrossCulture-Programm des ifa.

Mein Therapeut hat die Diagnose bestätigt: Ich leide an einer Depression.

Ich bin nicht sicher, warum mich das überrascht. Schließlich habe ich seit dem 7. Oktober 2023 mehrere entsetzliche Monate in einem kleinen Raum im Gazastreifen zugebracht, ohne ein Bett und ohne ausreichende Lebensmittel und Medikamente. Und obendrein waren oder sind mein Leben und das Leben meiner Angehörigen in ständiger Gefahr. Was hatte ich also erwartet? Dass der Arzt mir bescheinigt, dass ich glücklich bin?

„Die unerträgliche Frage wird immer sein: Warum ist mein Leben kostbarer als das der anderen Menschen, die noch immer im Gazastreifen gefangen sind?“

Heute beginnt für mich ein weiterer Monat in Ägypten. Es ist ein Wunder. Ich dachte, dass der Umstand, dass ich ein Bett habe und nicht mehr ständigen Bombardements ausgesetzt bin, ausreichen würde, damit ich zur Ruhe komme. Aber ich habe mich getäuscht. In den vergangenen Monaten war ich nicht in der Lage, auch nur eine einzige Nacht durchzuschlafen. Die Schlaflosigkeit ist ein schrecklicher Gefährte, der immer an meiner Seite ist, jeden meiner Atemzüge zählt und mich daran erinnert, dass es mir nie wieder gut gehen wird.

Die unerträgliche Frage wird immer sein: Warum ist mein Leben kostbarer als das der anderen Menschen, die immer noch im Gazastreifen gefangen sind? Es ist mir zuwider, dass meine Grundbedürfnisse erfüllt werden, während gleichzeitig viele Menschen, insbesondere solche mit chronischen und schweren Erkrankungen, keinen Zugang zum Allernötigsten haben, noch nicht einmal zu einem Glas mit sauberem Wasser. Aber vor allem bin ich wütend. Wütend auf eine Welt, die endlos von Menschlichkeit spricht, aber keine ernsthaften Schritte unternimmt, um diesen Albtraum zu beenden.

„Ich hätte nie gedacht, dass es eine riesige Bürde sein könnte, einfach nur den Laptop einzuschalten“

Die härteste Wahrheit ist jedoch die, dass das Leben außerhalb des Gazastreifens weitergehen muss. Ich muss arbeiten, ich muss etwas Geld verdienen, um wenigstens zu „überleben“ und meine Miete zu bezahlen, um Essen zu kaufen und um zu verschiedenen Ärzten zu gehen, die meine diversen Probleme beheben sollen.

Ich hätte nie gedacht, dass es eines Tages eine riesige Bürde und eine schwierige Aufgabe für mich sein könnte, einfach nur den Laptop einzuschalten. Ich sehe mich in dem gemieteten Apartment um, in dem ich mich befinde, und möchte nur schreien: „Ich gehöre nicht hierher!“

Ich habe Gaza hinter mir gelassen und jetzt bin ich an einem Ort, der nicht im Geringsten so aussieht wie mein Zuhause. Um es kaufen und auf liebevolle Weise einrichten zu können, habe ich mein Leben lang gespart. Es ist ein Ort, von dem ich glaubte, ich würde dort zusammen mit meinen Kindern alt werden.

„In den vergangenen Monaten war ich nicht in der Lage, auch nur eine einzige Nacht durchzuschlafen“

Das Onlinemeeting beginnt, und ich lausche verwundert dem ganzen Gerede über Qualität, das Einhalten von Deadlines und Planung. Ich bringe Ideen ein und übernehme ein paar Aufgaben, aber ich bin unkonzentriert; Leute loben meinen Vorschlag und nennen ihn großartig, aber ich weiß gar nicht mehr, was ich gerade gesagt habe. Ich beende das Meeting, ziehe mein T-Shirt aus, das ich nur für die Kamera angezogen hatte, und gehe ins Bett. Ich werfe mich so erschöpft auf die Matratze, als hätte ich stundenlang schwere Steine geschleppt.

Während ich im Bett liege, scrolle ich auf meinem Telefon herum, um die neuesten Nachrichten zu lesen. Der Vater eines Freundes ist gestorben, eine Frau, die ich kenne, hat ihre gesamte Familie verloren, das Haus meiner Kollegin wurde zerstört, Menschen haben nichts zu essen, Menschen sterben. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, warum unschuldige Männer, Frauen, Ärzte, Anwältinnen und Arbeiter aus ihren Häusern und aus ihrem Alltagsleben vertrieben wurden, nur weil sie Bewohner und Bewohnerinnen von Gaza sind.

Ich versuche aufzustehen, aber mein Körper ist wie gelähmt. Ich schreie, nicht vor Schmerz, sondern vor tiefer Traurigkeit. Ich zwinge mich, Richtung Bettkante zu robben, bis ich fast aus dem Bett falle, erst dann setze ich einen Fuß auf den Boden. Ich stehe auf und stolpere über meine herumliegenden Schuhe. Dass meine Schuhe mitten im Raum liegen, ist neu für mich.

„Alle, die aus Gaza fliehen konnten, hängen in der Luft“

In meinem Zuhause in Gaza hatte ich einen maßgefertigten Schrank für Schuhe. Überall liegt Staub. Alles ist in Unordnung, sogar meine Gedanken. Genauso, wie mein Körper sich in einem „fremden Apartment“ befindet, steckt meine Seele anscheinend in einem neuen Körper, in den sie nicht gehört. Es ist ein trauriger, chaotischer Ort, und es ist ganz einfach nicht mein Zuhause.

Ich brauche mehr als eine halbe Stunde dafür, ein paar Zeilen für den Bericht zu schreiben, an dem ich arbeite. Ich habe alle Informationen; alles, was ich tun muss, ist, sie in ein paar miteinander verbundenen Absätzen zusammenzufassen.

An meiner früheren Arbeitsstelle waren meine Kolleginnen und Kollegen immer beeindruckt, wie schnell ich meine Aufgaben erledige, sie haben immer meine positive Energie gelobt. Doch das gehört der Vergangenheit an. Ich werde müde, zu müde, aber ich muss arbeiten, weil ich das Geld brauche. Ich übe mich in Prokrastination, bis ich den Bericht nach drei Stunden endlich fertiggestellt habe.

Alle, die aus Gaza fliehen konnten, hängen in der Luft. Mein Körper ist in Sicherheit, es gibt keine Bombardements, ich bin dankbar, dass ich draußen bin, aber es geht mir nicht gut.

Es wird erwartet, dass man bei null anfängt, dass man vernünftige Klamotten besorgt, denn die, die ich am Leibe trug, waren entweder zerrissen oder abgetragen, und es waren vor allem nicht meine eigenen. Man muss sich mit den Straßen, Läden und Dienstleistern vertraut machen. Man muss in jeder einzelnen Minute neue Entscheidungen treffen, während man mit dem Herzen, den Gedanken und der Seele in Gaza und bei seinen Angehörigen ist.

„Worüber soll ich jetzt schreiben – die zerbrochenen Seelen der Menschen aus dem Gazastreifen?“

Eine weitere Herausforderung sind das Grübeln und die permanente Sorge, in die ich immer weiter versinke. Sollten wir anfangen, uns über Auswanderung Gedanken zu machen? Befinden wir uns überhaupt in der luxuriösen Situation, frei über unsere Zukunft und unser Schicksal zu entscheiden? Werde ich jemals zufrieden sein? Ich glaube, dass ich nie wieder auch nur einen Moment lang wirklich glücklich sein werde.

Was wird mit uns geschehen, werden wir nach Gaza zurückkehren können? Wird es nach all der Zerstörung noch ein Gaza geben? Werde ich jemals Gazas Straßen und seine Menschen wiedersehen? Oder wird eine neue Reise beginnen? Falls ja, dann trete ich sie nicht freiwillig an.

In den vergangenen Jahren habe ich über Menschen aus Gaza geschrieben, die ein Vorbild waren; inspirierende Frauen und Männer, die sich für positive Veränderungen in der Gemeinschaft engagiert und zu ihrer Entwicklung beigetragen haben. Worüber soll ich jetzt schreiben – die zerbrochenen Seelen der Menschen aus dem Gazastreifen, die Träume und Errungenschaften, die verschwunden sind, oder über jene Menschen, die nicht mehr am Leben sind?

Ich erhalte eine WhatsApp-Nachricht über ein Meeting am nächsten Tag. Ich fühle mich erschöpft; noch ein Meeting, noch eine Interaktion mit Menschen, noch eine Aufgabe, die erledigt werden muss. Ich gehe ins Schlafzimmer, werfe mich wieder aufs Bett und bete, dass ich diesmal imstande sein werde zu schlafen.

Aus dem Englischen von Caroline Härdter


My therapist confirmed the diagnosis, I have depression.

I am not sure why I am surprised. After all, since October 7th, 2023, I have gone through several horrendous months in the Gaza Strip in a small room, with no beds, scarce food and medicine. And above all, my life and the lives of my loved ones were, and some are still, in continuous danger. So, what did I expect? To be declared a happy person?!

“The unbearable question will always be, why is my live more precious than the lives of the Gazan who are still imprisoned in the strip?”

Today marks a new month of being in Egypt. It is a miracle. I thought that having a bed and being away from continuous bombing is enough for me to rest. But I was wrong, for the past months, I haven’t been able to have one good-night sleep. Insomnia is that horrible companion of yours that keeps by your side, counting every breath you take, reminding me that I will never be OK.

The unbearable question will always be, why is my live more precious than the lives of the Gazan who are still imprisoned in the strip? I am disgusted of the fact that I have access to my basic needs now while there are still many people, especially ones with chronic and serious diseases who are unable to have the bare necessities, not even a cup of clean water. But above all of that, I feel angry. Angry at a world that speaks endlessly of humanity yet nothing serious is being made to end this nightmare.

“I never thought that one day, turning on the laptop would be a difficult task to achieve”

Yet, the harshest of realities is that life has to go on in the outside. I need to work, to earn some money to be able to at least “survive” and pay rent, buy food and go to many doctors to fix all the problems I have.

I never thought that one day, turning on the laptop would be a huge burden and a difficult task to achieve. I look around at the rented apartment I am in, and all I want to do is to scream “I don’t belong here”. I left Gaza behind and right now I am in a place that looks nothing like the home I spent all my life saving money to buy and decorate. A place I thought would be the one where I grow old with my own children.

“For the past months, I haven’t been able to have one good-night sleep”

The online meeting starts, and I am astonished by all the talk about quality, meeting deadlines and planning. I share ideas and take on some tasks, but I am not focused; people compliment my suggestion saying it is a brilliant one, I have no idea what I had just said. I finish my meeting, take off my t-shirt that I wore just because the cameras were on and go to bed. I throw my body over the mattress as if I have been holding heavy rocks for hours.

While on bed, I scroll the phone screen to see the latest news. A friend’s father passed away, a woman I know lost her whole family, my colleague lost her house, people have no food, people are dying. I cannot stop thinking about why innocent men, women, doctors, lawyers and daily workers find themselves outside their homes and away from their lives, just because they are Gazans.

I try to get out of bed, my body is paralyzed. I scream, not out of pain, but out of utter sadness. I keep pushing myself until I am on the verge of falling before I put my first foot on the ground.  I stand up and I stumble across my scattered shoes. Having shoes lying in the middle or the room is something I had never experienced before, in fact, in my home in Gaza, I had a customized closet for shoes.

“Every Gazan who was able to get out is in limbo”

There is dust everywhere. Everything is not organized, even my own thoughts are not. Apparently, just like this “foreign apartment” I am in, my soul is in a new body that it does not belong to. It is a sad place, chaotic one and simply, it is not my home.

It takes me over half an hour to write a couple of lines in the report I am preparing. I had all the information, all I needed is to compile it in a number of connected paragraphs. In the past, co-workers were always impressed by how fast I get the job done; they had always spoken about my positive energy. Not anymore. I got tired, too tired, but I have to work, because I need the money. I continue practicing my procrastination skills until I am done with the report within three hours.

Every Gazan who was able to get out is in limbo, my body is physically safe, there is no bombing, I am grateful I am out, but I am not OK. You are expected to start from scratch, to get decent clothes, because the ones I had on were either torn or worn out, and most importantly, not mine. You need to get familiarized with the streets, shops and service providers. You need to make new decisions every single minute while your heart, mind and soul are trapped by thoughts about Gaza and your loved ones there.

“What shall I write about now, the broken souls of Gazans?”

Another challenge is overthinking and the endless state of worry that I am deeply indulged in. Should we start thinking about immigration? Do we have the luxury or freedom of choice regarding our own future and destiny? Will I ever be content? I believe I will never experience any moment of true happiness ever again. What will happen to us, will we be able to go back to Gaza? Will there be a Gaza after all the destruction? Will I ever be able to see its streets and people? Or will a new journey start? A journey I did not sign up for.

In the past, I used to write about positive Gazan models; inspiring women and men who are making a positive change in the community and contributing to its development. What shall I write about now, the broken souls of Gazans, the dreams and achievements that disappeared, or those who are no longer alive?

I receive a WhatsApp message about a meeting the next day. I feel stressed out; another meeting, another interaction with people, another work to be done. I go to the bedroom, throw myself over the bed again and pray that this time, I will be able to sleep.