Proteste | Türkei

„Die Menschen haben ihre Angst verloren“

Seit der Verhaftung des prominenten Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu gehen immer mehr Menschen in der Türkei auf die Straße. Sie protestieren gegen den autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, aber auch für eine bessere Zukunft. Hier erzählen sieben von ihnen, was sie bewegt

Türkische Studierende der Galatasaray-Universität während eines Protestmarsches nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu am 20. März 2025 in Besiktas, Istanbul, Türkei. Der Ausruf auf dem Protestschild bedeutet „Freiheit gibt es auf der Straße, nicht an den Wahlurnen“.

Am 19. März wurde Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) zusammen mit mehr als hundert weiteren Personen wegen angeblicher Korruption und angeblicher Unterstützung von Terroristen festgenommen. İmamoğlu gilt als aussichtsreicher Kandidat bei der nächsten Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 und damit als direkter Gegner von Recep Tayyip Erdoğan. Die CHP spricht von einem „Putsch“ gegen die Demokratie.

Direkt nach İmamoğlus Inhaftierung versammelten sich trotz eines vorübergehenden Demonstrations- und Versammlungsverbots Hunderttausende vor dem Rathaus von Istanbul – die größte Demonstration seit den Gezi-Protesten von 2013. Die vor allem von Studentinnen und Studenten initiierten Protestmärsche, die zunächst auf Istanbul beschränkt waren, finden mittlerweile auch in Städten wie Ankara und Izmir statt. Die Opposition rief zudem zu einem wirtschaftlichen Boykott von Unternehmen auf, die die Regierung unterstützen.  Am 2. April verzichteten viele Türken deshalb auf einen Einkauf oder den Besuch eines Cafés – und einige Ladenbesitzerinnen und -besitzer beteiligten sich ihrerseits am Protest, indem sie ihre Geschäfte für einen Tag schlossen.

Die Wahlbeteiligung ist sowohl bei Kommunal- als auch bei Parlamentswahlen in der Türkei traditionell hoch und liegt meist bei über achtzig Prozent. Wahlen sind die wichtigste Form politischer Partizipation, denn die Zivilgesellschaft ist geschwächt, die großen Medien stehen unter Kontrolle des Staates, und politisches Engagement ist mit hohen persönlichen Risiken verbunden. Die noch relativ freien Wahlen sind für viele der Protestierenden nun akut in Gefahr.

Ayşe Karabat, die leitende Redakteurin der Nachrichtenplattform Fayn Press, sprach für uns mit sieben Menschen in der Türkei, um mehr über ihre Hoffnungen und Sorgen und die Proteste zu erfahren.


„Die Menschen haben ihre Angst verloren“

Şennaz Uzun, 57, pensionierte Lehrerin

İmamoğlus Verhaftung ist nicht der erste Schlag gegen die Opposition. Frühere Angriffe lösten nur kleinere Demonstrationen und ein paar kritische Stellungnahmen aus. Doch dieses Mal war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – die Menschen erkannten, dass ihr Recht auf freie Wahlen in Gefahr ist. Das Recht auf ein faires System und ein würdevolles Leben steht auf dem Spiel, deshalb gehen sie auf die Straßen – nicht nur für İmamoğlu, sondern für sich selbst. Als Lehrerin habe ich beobachtet, dass selbst Kinder aus AKP-nahen oder konservativen Familien an den Protesten teilnehmen. Die Vielfalt der Demonstranten ist bemerkenswert – sie stehen friedlich Schulter an Schulter und fordern ihre Zukunft ein.

Es gibt Gerüchte, dass die Regierung die Repressionen verschärfen könnte, doch ich denke nicht, dass das passiert. Die Menschen haben ihre Angst verloren und sind entschlossen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Es erfüllt mich mit Stolz, dass vor allem junge Menschen, die früher als unpolitisch galten, jetzt die Bewegung mit Begeisterung anführen. Die westlichen Werte erodieren, und ich glaube, dass Trumps Politik den Machthabern in der Türkei den Weg geebnet hat. Dennoch gibt mir die Jugend Hoffnung – sie hält trotz staatlicher Unterdrückung an ihrer Zukunft fest, was mich als Lehrerin glücklich macht.


„Als die Proteste begannen, fühlte ich Hoffnung“

D.E.*, 21, Studentin an einer staatlichen Universität

Seit ich auf der Welt bin, war immer nur eine Partei an der Macht: die AKP. In der Türkei gibt es für uns weder Freiheit noch eine Zukunft. Wir existieren noch, aber wir leben nicht wirklich. Als die Proteste begannen, fühlte ich Hoffnung und schloss mich den Demonstrierenden an – nur um verhaftet zu werden. Ich hatte Angst, aber ich wurde unter der Auflage freigelassen, mich regelmäßig bei der Polizei zu melden, bis mein Gerichtsverfahren abgeschlossen ist. Ich weiß nicht, ob die Demonstrationen weitergehen werden, aber ich träume davon, in einem Land zu leben, in dem Entscheidungen demokratisch und nicht von einer kleinen Elite getroffen werden.


„Die Demonstrationen stehen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise“

Tutku Türker, 38, Cafébesitzer

Ich bin ausgebildeter Elektroingenieur. Nach meinem Abschluss habe ich ein paar Jahre in meinem Beruf gearbeitet – mit niedrigem Gehalt und langen Arbeitszeiten. Also entschied ich mich, zu kündigen und ein Café zu eröffnen. Meine Kunden sind größtenteils junge Menschen, die sich hier zum Daten treffen. Sie können es sich aufgrund der hohen Preise oftmals nicht leisten, auswärts zu essen oder Alkohol zu konsumieren. Auch bei mir kostet der Kaffee, den ich 2017 noch für 4 Lira verkauft habe, jetzt 200 Lira. Die ökonomische Lage verschlechtert sich, und die großen Demonstrationen, die wir derzeit erleben, stehen auch im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise und der hohen Inflation. In meiner Jugend erlebte ich verschiedene Regierungen, aber seit die AKP an die Macht kam, wurden unsere Freiheiten immer drastischer eingeschränkt, besonders nach der Umstellung auf das Präsidialsystem im Jahr 2017. Die Türkei hat sich in eine Art Königreich verwandelt, und was wir jetzt erleben, ist, hoffentlich, ein Umsturz. Unser Land ist reich an Ressourcen und verdient eine bessere Verwaltung sowie mehr Freiheiten.

Es geht nicht nur um İmamoğlu, die Proteste sind eine Reaktion auf die Gesamtsituation. Ich habe nicht an den Demonstrationen teilgenommen, da sie für mich eher wie Parteiveranstaltungen wirken als wie echte Proteste. Dennoch habe ich mein Geschäft am Tag des Wirtschaftsboykotts geschlossen, um meine Ablehnung dieses Quasi-Königreichs zu zeigen. Falls sich etwas ändert und jeder bereit ist, Opfer zu bringen, könnte ich mein Café an weiteren Boykotttagen geschlossen halten. Auf Social Media sehe ich, dass nur ehemalige europäische Politiker – Ex-Premierminister und Ex-Minister – auf das Geschehen in der Türkei reagieren. Ich denke, dass die aktuellen Regierungen Angst vor Vergeltung durch Erdoğan haben, da er die Grenzen öffnen und eine neue Migrationswelle auslösen könnte.


„Ich träume von einer Türkei, in der die AKP nur noch in Geschichtsbüchern existiert“

Şennur Demirok, 33, derzeit arbeitslos

Ich habe einen Universitätsabschluss und suche eine Stelle als Soziologin, während ich gleichzeitig meine Familie in ihrem Geschäft unterstütze. Früher habe ich an Demonstrationen für Menschenrechte teilgenommen, schon seit Längerem habe ich das nicht mehr getan. Aber nach der rechtswidrigen Verhaftung von İmamoğlu und seinen Mitstreitern bin ich, wie viele andere Menschen, die Demokratie fordern, wieder auf die Straße gegangen. Die Regierung versucht, ihr Ein-Mann-Regime zu festigen, indem sie ihren stärksten Gegner ausschaltet.

Ich träume von einer Türkei, in der die AKP nur noch in Geschichtsbüchern existiert – von einem Land, in dem Demokratie gedeiht, Frauen nicht Opfer von Gewalt sind, Flüchtlinge nicht als Verhandlungsmasse benutzt werden und jeder frei seine Muttersprache sprechen kann. Im Westen erleben wir den Erfolg rechter Bewegungen, und daher überrascht mich das Schweigen europäischer Politikerinnen und Politiker zur Situation in der Türkei nicht, da sie mit ihren eigenen internen Problemen zu kämpfen haben.


„Wir sind entschlossen“

Okan D.*, 21, Student an einer privaten Universität

Wir hatten zuletzt nur noch Reste von einer wirklichen Demokratie in der Türkei, aber mit İmamoğlus Verhaftung sind auch diese verschwunden. Das war der Wendepunkt zur völligen Autokratie – ähnlich wie in Aserbaidschan oder Russland. Ich hätte nie gedacht, dass meine Generation anfangen würde, Widerstand zu leisten – doch nun sehe ich den Kampfgeist in uns allen. Wir sind entschlossen und organisieren uns schnell. Bei den Demonstrationen geht es nicht nur um İmamoğlu – sondern auch um den Kampf für Meinungsfreiheit, Respekt für unsere Lebensweise und gegen die Kriminalisierung aufgrund von Alter, Ethnie, Sprache oder sexueller Orientierung.


„Demonstrieren ist mein verfassungsmäßiges Recht“

S.P.*, 19, Studentin an einer staatlichen Universität in Ankara

Jeden Tag wachen wir zu neuen Rechtsverletzungen auf, zu Frauenmorden, Umweltverbrechen oder Angriffen auf Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger. Wie viele junge Menschen habe ich Angst um meine Zukunft. Ich wurde verhaftet und wieder freigelassen, aber ich werde nicht aufgeben: Demonstrieren ist mein verfassungsmäßiges Recht. Solange die Proteste friedlich bleiben, glaube ich, dass sie in verschiedenen Formen weitergehen werden. Ich wünsche mir ein Land, in dem wir nur über kleine Probleme sprechen müssen, nicht über fundamentale Menschenrechtsverletzungen.


„Elon Musk hat Demonstranten-Accounts eingeschränkt“

Eren S.*, 26, Fabrikarbeiter

Als Fabrikarbeiter leide ich, wie viele andere, unter der Billiglohn-Politik der Regierung. Sie kann diese Politik nur aufrechterhalten, indem sie die Opposition zum Schweigen bringt. Da sie nicht genug Zustimmung in der Bevölkerung hat, nutzt sie die Justiz als Waffe gegen Kritiker. İmamoğlus Verhaftung ist nur das jüngste Beispiel. Die Regierung hat vorübergehend innegehalten, weil die Proteste massiv sind. Doch wenn der Druck nachlässt, wird sie weitermachen. Neben wirtschaftlichen Boykotten brauchen wir auch einen Generalstreik, um echte Veränderungen zu erreichen. Ich hoffe auf eine Zukunft, in der wir in erdbebensicheren Städten ohne Angst vor Arbeitslosigkeit leben können, mit Gehältern, die uns ein würdevolles Leben ermöglichen.

Ähnlich wie in der Türkei begünstigt die neoliberale Politik im Westen die Verbreitung rechter Ideologien, was das Schweigen vieler europäischer Politiker erklären könnte. Zudem hat Elon Musks Social-Media-Plattform auf Wunsch der türkischen Regierung Demonstranten-Accounts mit Beschränkungen belegt – offenbar mit stiller Zustimmung der US-Regierung.

*Auf die Nennung des vollständigen Namens wurde verzichtet, um die Sicherheit der Person nicht zu gefährden.