Wirtschaft | Südkorea

Kommt die Vier-Tage-Woche in Südkorea?

In Südkorea sterben immer wieder Menschen durch Burnout. Der neu gewählte Präsident Lee Jae-Myung will daher die Vier-Tage-Woche einführen. Wie könnten insbesondere Frauen davon profitieren?

Unterstützer:innen des neu gewählten Präsidenten Lee Jae-myung

Einen älteren Beamten traf es ein Jahr vor seiner Pensionierung: Nachdem er monatelang täglich zwölf Stunden gearbeitet und über Erschöpfung geklagt hatte, starb er an Überarbeitung. Auch ein 41-jähriger Paketzusteller brach zusammen, nachdem er an sechs Tagen die Woche geschuftet hatte –  und schließlich auch eine Richterin – eine berufstätige Mutter von zwei Kindern. Oft war sie bis 3 Uhr morgens wach geblieben, um ihren Workload zu stemmen. „Ich frage mich, wer mich findet, wenn ich kollabiere“, schrieb sie online in einem Post.

Solche Todesfälle machen in Südkorea seit Jahrzehnten regelmäßig Schlagzeilen – so häufig, dass es dafür sogar einen eigenen Begriff gibt: Kwa-ro-sa, wörtlich „Tod durch Überarbeitung“. Meistens sterben die Menschen an Herzinfarkten oder Schlaganfällen, nachdem sie sich wortwörtlich tot gearbeitet haben. Eine Studie aus dem Jahr 2020 fand auch einen Zusammenhang zwischen höheren Selbstmordraten und den unmenschlichen Arbeitsstunden.

Um das Leid überarbeiteter Menschen zu lindern, wird in Südkorea derzeit ein neues Experiment diskutiert: die Vier-Tage-Woche. Der neu gewählte Präsident Lee Jae-Myung schlug während seines Wahlkampfs eine viereinhalbtägige Arbeitswoche mit 35 Stunden vor. Langfristig strebt er eine reguläre Vier-Tage-Woche an, um der Bevölkerung von 50 Millionen Menschen humanere Arbeitszeiten und ein menschenwürdigeres Leben  zu ermöglichen.

Obwohl das Konzept der Vier-Tage-Woche bereits in vielen Ländern erprobt wurde, von Island bis Deutschland, gilt es in Südkorea weiterhin als radikal –  schließlich ist es ein Land mit einer der höchsten durchschnittlichen Arbeitszeiten der Welt. Ein durchschnittlicher südkoreanischer Arbeitnehmer kommt auf 1.872 Arbeitsstunden im Jahr – weit mehr als der OECD-Durchschnitt von 1.742 Stunden oder die 1.343 Stunden in Deutschland. Umgerechnet bedeutet das: Südkoreaner arbeiten im Schnitt über zwei Monate länger pro Jahr als Deutsche.

Diese extrem langen Arbeitszeiten und die harte Unternehmenskultur galten lange als Treiber des wirtschaftlichen Aufstiegs Südkoreas in den 1970er bis 1990er Jahren, eine entscheidende Grundlage für den heutigen Status des Landes als globale Wirtschaftsmacht. Doch der Preis dafür ist die extrem niedrige Geburtenrate, die mit 0,75 Kindern pro Frau derzeit die niedrigste der Welt ist. Viele junge Menschen empfinden eine gesunde Work-Life-Balance oder die Gründung einer Familie als unerschwinglichen Luxus.

„Studien zeigen, dass die Vier-Tage-Woche sich besonders positiv auf Frauen auswirkt“

Besonders stark betroffen sind verheiratete Frauen. In der konservativ geprägten südkoreanischen Gesellschaft übernehmen sie den Großteil der Kinderbetreuung und der Hausarbeit – zusätzlich zur Erwerbsarbeit. Viele Unternehmen diskriminieren weibliche Bewerberinnen mit dem Argument, sie könnten nach Heirat oder Geburt keine langen Arbeitszeiten mehr leisten. Infolgedessen überdenken viele junge Frauen grundsätzlich, ob sie überhaupt eine Familie gründen wollen. Eine Hoffnung des Vier-Tage-Woche-Experiments ist auch, dass junge Frauen wieder motivierter sind, eine Familie zu gründen.

„Studien zeigen, dass die Vier-Tage-Woche sich besonders positiv auf Frauen auswirkt“, sagte Kim Jong-In, Direktor des Korea Worker Institute and Union Center, in einem Interview mit Women News. „Wenn Frauen sich um die Kinder kümmern müssen, können sie das künftig erledigen, ohne Angst vor dem Chef zu haben. Ihre Lebensqualität wird deutlich steigen – mehr als die der Männer. Aber Männer müssen künftig auch mehr Sorgearbeit übernehmen.“

Auch Bae Jin-Kyung, Vorsitzende der Korea Women Workers Association sagte in einer Rede im vergangenen Jahr: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen zu wenig Zeit für bezahlte Arbeit haben – und Männer zu viel Zeit im Büro verbringen müssen.“

Wie schnell sich die 4,5- oder Vier-Tage-Woche durchsetzen wird – falls überhaupt – ist derzeit noch offen. Sicher ist bislang nur, dass Lees Vorstoß eine öffentliche Debatte erzeugt hat. 

Lokal laufen bereits mehrere Pilotprojekte zur Vier-Tage-Woche in Südkorea. Zum Beispiel in einem Krankenhaus in Seoul: Dort sank nach der Einführung die Zahl der Kündigungen unter Pflegekräften um ein Drittel, die Patientenzufriedenheit stieg, und die Beschäftigten berichteten deutlich seltener von Schlafstörungen oder Depressionen. In der Provinz Chungcheongnam-do dürfen Beamte mit kleinen Kindern an vier Tagen pro Woche arbeiten – unter der Bedingung, dass sie an diesen Tagen jeweils zehn Stunden leisten. Das Pilotprogramm war das erste dieser Art im öffentlichen Dienst und führte zu Forderungen, es auch auf den Rest der Belegschaft auszuweiten.

Die Umstellung ist jedoch nicht unumstritten. Unternehmen argumentieren, dass eine Reduktion der Arbeitszeit ohne Gehaltskürzung nicht umsetzbar sei, während Gewerkschaften und Präsident Lee eine Einführung bei vollem Lohn fordern. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass sechs von zehn Südkoreaner*innen die Vier-Tage-Woche unterstützen. In einer anderen Umfrage sprachen sich jedoch nur 44 Prozent dafür aus, wenn diese mit Gehaltskürzungen verbunden wäre.

Inzwischen versprach Präsident Lee staatliche finanzielle Unterstützung für Unternehmen, die auf eine 4,5-Tage-Woche umstellen, und forderte einen „mutigen Politikwechsel“ für ein „nachhaltiges Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben“. Die Zeit drängt. Erst vor wenigen Wochen brach wieder ein Mitarbeiter aus dem Büro des Präsidenten während der Arbeit zusammen – wegen Überarbeitung.

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