Kolumbiens turbulente Wahlen
Von Mariano Aguirre
Rodolfo Hernández, der 77-jährige Unternehmer und ehemalige Bürgermeister von Bucaramanga, der für die Liga de Gobernantes Anti Corrupción kandidiert, trat erst vor wenigen Monaten richtig in Erscheinung. Entsprechend überrascht waren die Kommentatoren auch von dem neuen und weitgehend unbekannten Anwärter.
Er legte gleich mit einem Paukenschlag los und beschuldigte seine Gegner zahlreicher Verbrechen. Im Wahlkampf setzt er vor allem auf die sozialen Netzwerke, auf sogenannte „Märsche“ und auf Provokationen, er bietet vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme. Damit verdrängte er Federico „Fico“ Gutiérrez, den Kandidaten des Rechtsbündnisses Equipo por Colombia, vom zweiten Platz. Während er traditionelle politische Parteien der Korruption bezichtigt, schlägt er einerseits traditionelle Maßnahmen konservativer Politik wie Steuersenkungen vor, andererseits gibt er sich liberal, etwa wenn er sich für das Recht auf Abtreibung ausspricht.
In der Stichwahl tritt er gegen Gustavo Petro an, den Führer des überwiegend linken Pacto Histórico, der zusammen mit der afrokolumbianischen Aktivistin Francia Márquez kandidiert. Im Fall eines Sieges wäre sie die erste schwarze Vizepräsidentin des Landes. Und Gustavo Petro wäre der erste linke Regierungschef Kolumbiens. Die beiden haben reale Chancen, was zu heftigen Gegenreaktionen seitens einer Koalition rechter Kräfte in der Wirtschaft, dem Militär und dem Staatsapparat geführt hat, die eigentlich neutral sein sollten. Sowohl Gustavo Petro wie Francia Márquez haben zahlreiche Morddrohungen erhalten. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte ein Sprecher der Nationalen Organisation der indigenen Völker Kolumbiens, die Petro unterstützt, in einem Interview.
„Im Vorfeld der Stichwahl hat sich der linksgerichtete Kandidat Petro als Verteidiger eines Establishments präsentiert, das reformiert werden müsse“
Die Wahl findet zu einer Zeit statt, in der politische Gewalt und organisierte Kriminalität zunehmen. Der neue Präsident wird auch über die Zukunft des 2016 unterzeichneten Friedensvertrags zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) entscheiden, der anfangs als historischer Durchbruch gefeiert wurde, den die derzeitige Regierung aber wiederholt torpediert hat.
Dass Hernández so viel Zuspruch erhält, hat die Wahlen jedoch aufgemischt. Da nur zwei Kandidaten antreten, dürften sich viele rechte Wähler hinter den Populisten scharen, der mit Trump und Berlusconi verglichen wird. So hofft die derzeit regierende Partei Centro Democrático, das Demokratische Zentrum, auch mit einem anderen Präsidenten weiter an der Macht zu bleiben.
Zudem misstrauen viele Wähler der Mitte dem Kandidaten Gustavo Petro wegen seiner Vergangenheit: Zwar hat er sich schon vor langer Zeit vom bewaffneten Kampf distanziert, aber in seiner Jugend war er ein Guerillero. Im Vorfeld der Stichwahl am 19. Juni hat sich Petro nun als Verteidiger eines Establishments präsentiert, das reformiert werden müsse – und nicht als Populist, der es zerstören will.
Ein widersprüchliches Land
Kolumbien ist ein Widerspruch in sich: Das Land ist reich an natürlichen Ressourcen, es gibt eine breite städtische Mittelschicht und eine international ausgerichtete Wirtschaftselite; Kolumbien gehört zur OECD, darf sich „globaler Partner“ der NATO nennen und gilt als ein starker Verbündeter der USA. Aber es ist auch eines ungleichsten Länder Lateinamerikas und somit der ganzen Welt. Steuerhinterziehung und Korruption sind an der Tagesordnung.
Der Lebensstil der Wohlhabenden in einigen Vierteln Bogotás, Medellíns oder Cartagenas ähnelt jenem der Einwohner reicher europäischer Städte, doch nur wenige Kilometer entfernt – und vor allem in Regionen wie La Guajira, Cauca oder Catatumbo – herrscht bittere Armut.
Es fehlt an Straßen, Trinkwasser, Krankenhäusern, Schulen, Richtern und Polizei. Von 51,6 Millionen Einwohnern Kolumbiens leben 7,41 Millionen in extremer Armut. Außerdem befinden sich zwei Millionen überwiegend arme venezolanische Einwanderer im Land. Die weißen Wirtschaftseliten und die Mittelschicht verachten die indigenen Völker (die in der spanischen Kolonialzeit unterjocht und beinahe ausgerottet wurden), Afrokolumbianer und ganz allgemein einkommensschwache Bevölkerungsgruppen.
„Im 20. Jahrhundert schlossen Liberale und Konservative einen Pakt, um die Macht im Land unter sich aufzuteilen. Bauern, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften blieben ausgegrenzt“
Dies ist keine neue Entwicklung. Der kolumbianische Staat hat seine Wurzeln in den Kriegen und Allianzen zwischen den Eliten Bogotás und den autoritär auftretenden Anführern und Bossen der Provinz, den Caudillos. Im 20. Jahrhundert schlossen Liberale und Konservative einen Pakt, um die Macht im Land unter sich aufzuteilen.
Bauern, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften blieben dabei ausgegrenzt. In den 1960er Jahren entstanden mehrere marxistisch-leninistische Guerillagruppen, die die Macht des Staates teilweise brachen und einige Gebiete und Gemeinden unter ihre Kontrolle brachten.
Seit den 1970er Jahren sind Gesellschaft und Politik durch den Drogenhandel, die Streitkräfte und die Guerillas korrumpiert worden. Laut dem Centro Nacional de Memoria Histórica, dem Nationalen Zentrum für historische Erinnerung, sind zwischen 1958 und 2018 261.000 Menschen durch Gewalttaten von Guerillas, paramilitärischen Gruppen, narcos und staatlichen Sicherheitskräften ums Leben gekommen.
Das Land ist zutiefst zerrüttet. Auf rund vierzig Prozent des Territoriums ist die Staatsmacht nicht oder kaum präsent. Regierungsvertreter verhandeln mit bewaffneten kriminellen Gruppen über eine „geteilte Souveränität“.
In neun Regionen Kolumbiens, unter anderem an der venezolanischen und ecuadorianischen Grenze, sind fast einhundert kriminelle bewaffnete Gruppen aktiv. Viele von ihnen kämpfen um die Kontrolle über die von der FARC aufgegebenen Gebiete, die für den Kokaanbau und andere illegale Wirtschaftszweige genutzt werden. Das Militär zeigt Präsenz an Verkehrsknotenpunkten, doch das organisierte Verbrechen, FARC-Dissidenten und die ELN (eine Guerilla-Oranisation mit dem Namen „Nationale Befreiungsarmee“) kontrollieren das Leben und die Wirtschaft weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung.
Um Stärke zu demonstrieren, hat das Verbrechersyndikat Clan del Golfo vor Kurzem einen bewaffneten Generalstreik in elf Departements ausgerufen. Die Regierung hat keinerlei Anstrengungen unternommen, um ihn zu verhindern.
Der lange Weg zum Frieden
Das erwähnte Friedensabkommen, das die Regierung von Juan Manuel Santos 2016 mit der FARC, der stärksten marxistischen Gruppe, unterzeichnete, enthielt einige wichtige Punkte: eine Landreform zur Entwicklung der vom Krieg betroffenen Gebiete, einen Plan zur Substitution des Kokaanbaus, gerichtliche Maßnahmen sowie Amnestien oder Strafmilderungen für Guerillas, ehemalige Militärangehörige und in Gewalttaten verstrickte Geschäftsleute. Dazu kamen Pläne für die Beteiligung ehemaliger FARC-Mitglieder an der legalen Politik und ihre Wiedereingliederung ins Erwerbsleben.
Daran anschließen sollten sich Verhandlungen mit der ELN. Doch 2018 gewann der rechtsgerichtete Kandidat Iván Duque die Präsidentschaft mit dem Ziel, das Abkommen zu stoppen. Seitdem bekämpft seine Partei Centro Democrático das Abkommen mit allen politischen Mitteln. Deshalb sind weite Teile des Friedensvertrags noch immer nicht umgesetzt, was insbesondere die Landreform betrifft.
Zumindest konnte Duque die Wahrheitskommission und die Sondergerichtsbarkeit* für den Frieden nicht daran hindern, zurückliegende Verbrechen zu untersuchen. Umso besorgter sind Teile des Militärs, der Politik und der Wirtschaft darüber, was die Kommission und die Sondergerichte noch zutage fördern werden.
„Weite Teile des Friedensvertrags mit der FARC von 2016 sind noch immer nicht umgesetzt“
Unterdessen hat die Gewalt gegen ehemalige FARC-Mitglieder, führende Vertreter der Zivilgesellschaft und Minderheiten im ländlichen Raum, sowie gegen Umweltschützer und Menschenrechtsaktivisten, die das Abkommen unterstützen, zugenommen. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz wurde 2021 der höchste Anstieg an Gewalt in den letzten fünf Jahren verzeichnet.
Die Morde an Aktivistinnen und Aktivisten (mehr als 1.200 seit 2016) gehen auf das Konto kriminellen Banden, beauftragt teils von Mitgliedern der wirtschaftlichen Führungsschicht, die ihre Privilegien in Gefahr sehen. Das Justizsystem arbeitet langsam und ineffizient und verfügt nicht über ausreichende Mittel der Strafverfolgung.
Zwischen 2019 und 2021 kam es zu Massenprotesten, Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten forderten eine bessere Gesundheits- und Bildungspolitik, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, den rechtlichen Schutz von Minderheiten und gesellschaftlichen Akteuren sowie die Umsetzung des Friedensabkommens.
Eine lange To-do-Liste
Ganz oben auf der To-do-Liste des neuen Präsidenten müssten die Sicherheit der Bürger stehen, eine tiefgreifende Steuerreform, die Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung, der Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen und die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Venezuela.
Die Aufgabe, die vor dem neuen Staatschef liegt, wird jedoch erschwert durch steigende Preise für Lebensmittel und Dünger aufgrund des Ukrainekriegs sowie durch eine drohende Rezession. Zudem konzentrieren sich Länder der internationalen Gebergemeinschaft derzeit auf dringende Probleme in Europa.
Die Präsidentschaftskandidaten verfolgen sehr unterschiedliche Ansätze. Gustavo Petro will die Nutzung von Erdöl- und Mineralvorkommen – ein zentrales Anliegen nationaler und internationaler Unternehmen – einschränken und besteuern. Im Gegenzug möchte er den Übergang zu einer grünen Wirtschaft sowie die Umsetzung des Friedensabkommens vorantreiben.
„Unabhängig davon, wer gewinnt, sitzen das organisierte Verbrechen und die Guerillagruppen schon in den Startlöchern“
Hernández hingegen hat ein unklares, geradezu antipolitisches Programm. Er will das Land wie sein eigenes Unternehmen führen, wobei er Lippenbekenntnisse zur Korruptionsbekämpfung abgibt. Wie er die vielen Probleme des Landes angehen will, bleibt bislang sein Geheimnis.
Wenn Petro gewinnt, wird fast die Hälfte der Bevölkerung die Umsetzung von Reformen von ihm erwarten, die dem Land seit Jahrzehnten vorenthalten werden. Der Rest, darunter mehrere mächtige gesellschaftliche Gruppen, wird sich ihm komplett widersetzen und alles tun, um ihn am Regieren zu hindern.
Sollte sich Hernández durchsetzen, wird das derzeit regierende Centro Democrático ihm Minister zur Seite stellen, die wie gewohnt weitermachen. Wenn ein wirklicher Wandel dann, wie zu erwarten, ausbliebe, würde dies wahrscheinlich zu neuen sozialen Protesten führen. Unabhängig davon, wer gewinnt, sitzen das organisierte Verbrechen und die Guerillagruppen schon in den Startlöchern und werden ihre Angriffe aller Voraussicht nach verstärken.
*Die JEP ist eine Übergangsgerichtsbarkeit, die im Friedensvertrag verankert wurde. Sie dient der Aufarbeitung von Verbrechen, die während des 53 Jahre andauernden bewaffneten Konflikts begangen wurden.